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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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armer Alter auszulassen«, ließ sich der Demerit erneut vernehmen, »und Gewissensbisse zu empfinden, könntest du deine Talente besser dafür einsetzen, den Weg zu finden.«
    »Wie bitte?«
    »Schenk dir deine Unschuldslammmiene. Du weißt genau, wovon ich rede.«
    Reynevan war zwar auch der Ansicht, dass Gebinde unumgänglich waren, stieg aber nicht vom Pferd, sondern zögerte noch. Er war wütend auf den Demeriten und wollte ihm das zu verstehen geben. Das Pferd schnaubte, schüttelte den Kopf und scharrte mit dem Huf, das Echo des Aufstampfens drang dumpf durch die vom Nebel eingehüllten Sträucher.
    »Ich spüre Rauch«, sagte Scharley plötzlich. »Irgendwo machen sie hier ein Feuer. Holzfäller oder Köhler. Dort werden wir nach dem Weg fragen. Deine magischen Gebinde heben wir uns für eine bessere Gelegenheit auf. Deinen Trotz ebenfalls.«
    Er ging zügig voran. Reynevan hatte Mühe, ihm zu folgen, das Pferd brach immer wieder seitlich aus, widersetzte sich, schnaubte unruhig und zermalmte mit seinen Hufen Champignons und Täublinge. Der mit einem dicken Teppich faulenden Laubwerks bedeckte Boden senkte sich plötzlich, und ehe sie sich’s versahen, befanden sie sich in einer tiefen Schlucht. Die Wände der Schlucht bedeckten schiefe, krumme, mit Moos und Flechten bewachsene Bäume, ihre von der abgleitenden Erde freigelegten Wurzeln sahen wie Greifarme von Ungeheuern aus. Reynevan liefen Schauer über den Rücken, er duckte sich im Sattel. Das Pferd wieherte leise.
    Vor ihm aus dem Nebel erklang Scharleys Fluchen. Der Demerit stand an einer Stelle, an der sich die Schlucht in zwei Arme aufspaltete.
    Hier entlang, sagte er schließlich voller Überzeugung und nahm seinen Marsch wieder auf. Die Schlucht gabelte sich erneut, sie befanden sich in einem Labyrinth von Hohlwegen, der Rauchgeruch, jedenfalls schien es Reynevan so, kam von allen Seiten zugleich. Scharley jedoch ging sicher geradeaus, tapfer beschleunigte er seinen Schritt, ja er pfiff sogar vor sich hin.
    Reynevan begriff, weshalb. Als Knochen unter den Pferdehufen knackten.
    Das Pferd wieherte wie wild, Reynevan sprang ab, packte die Zügel mit beiden Händen, gerade noch rechtzeitig; der voller Entsetzen schnaubende Braune schielte aus angstvoll geweiteten Augen nach ihm, wich zurück und stampfte schwer mit den Hufen auf, wobei er Schädelknochen, Becken und Wadenbeine zertrat. Reynevan war mit den Füßen zwischen die gebrochenen Rippen eines menschlichen Brustkorbs geratenund versuchte, sie mit heftigen Bewegungen von sich zu schütteln. Er zitterte vor Abscheu. Und vor Angst.
    »Der Schwarze Tod«, sagte Scharley neben ihm. »Die Seuche von 1380.   Damals sind ganze Dörfer ausgestorben, viele Leute sind in die Wälder geflüchtet, aber auch hier hat die Seuche sie erwischt. Die Toten wurden in Schluchten begraben, so wie hier. Dann haben die Tiere die Leichen freigelegt und die Knochen verstreut . . .«
    »Lass uns zurückgehen.« Reynevan räusperte sich. »Lass uns schnell zurückgehen. Der Ort gefällt mir nicht. Der Nebel gefällt mir nicht. Und der Geruch dieses Feuers auch nicht.«
    »Furchtsam bist du wie ein Mädchen«, spottete Scharley. »Die Toten . . .«
    Er sprach nicht weiter. Ein Sausen, Pfeifen und Kichern ertönte, so laut, dass sie sich hinkauerten. Über die Schlucht flog, Funken und einen Rauchstreifen hinter sich herziehend, ein Totenkopf. Noch bevor sie sich davon erholt hatten, kam ein zweiter, noch schrecklicher pfeifend.
    »Gehen wir zurück«, sagte Scharley mit tonloser Stimme. »Schnell, mir gefällt dieser Ort nicht.«
    Reynevan war sich vollkommen sicher, dass sie im Zurückweichen ihren eigenen Spuren folgten, auf dem Weg, den sie gekommen waren. Aber schon nach einer Weile stieg die steile Wand der Schlucht vor ihren Nasen auf. Scharley kehrte wortlos um und bog in den zweiten Hohlweg ein. Nach einigen Schritten versperrte auch hier eine steile, mit Wurzelgeflecht überzogene Wand ihren Weg.
    »Das soll doch gleich der Teufel holen«, keuchte Scharley und machte kehrt. »Ich verstehe das nicht . . .«
    »Ich schon«, stöhnte Reynevan, »ich fürchte, ich versteh’s.«
    »Es gibt keinen Ausgang«, knurrte der Demerit, als sie erneut in einer Sackgasse gelandet waren. »Wir müssen zurück und über die Grabstätte gehen. Schnell, Reinmar, los, los.«
    »Warte!« Reynevan bückte sich, blickte sich um und suchte nach Kräutern. »Es gibt eine andere Möglichkeit . . .«
    »Jetzt?«, unterbrach ihn Scharley

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