Narziss Und Goldmund
legte den Kopf auf den Tisch wie auf einen Richtblock, es trieb ihn ein Drang, auch mit Leib und Sinnen das zu tun, was jetzt seinem Herzen auferlegt war: sich hinzugeben in das Unentrinn-bare, sich zu ergeben in das Sterbenmüssen.
Eine Ewigkeit lang blieb er so sitzen, jammervoll hinge-bogen, und versuchte, das Auferlegte auf sich zu nehmen, es einzuatmen, es einzusehen und sich mit ihm zu erfüllen. Es war jetzt Abend, es begann die Nacht, und das Ende dieser Nacht wird auch ihm das Ende bringen. Das mußte er versuchen zu begreifen. Er wird morgen nicht mehr leben. Er wird hängen, er wird ein Ding sein, auf das die Vö-
gel sich setzen und an dem sie picken, er wird das sein, was der Meister Niklaus war, was die Lene in der verbrannten Hütte war, was alle jene waren, die er in den leergestorbenen Häusern und auf den vollgestopften Leichenkarren hatte liegen sehen. Es war nicht leicht, es einzusehen und sich davon erfüllen zu lassen. Es war geradezu unmöglich, es einzusehen. Es war allzu vieles, wovon er sich noch nicht getrennt hatte, wovon er noch nicht Ab-268
schied genommen hatte. Die Stunden dieser Nacht waren ihm gegeben, um es zu tun.
Er mußte Abschied nehmen von der schönen Agnes, nie mehr würde er ihre große Gestalt, ihr lichtes sonniges Haar, ihre kühlen blauen Augen sehen, nie das Schwach-werden und Zittern des Hochmuts in diesen Augen, nie mehr den süßen Goldflaum auf ihrer duftenden Haut. Lebt wohl, blaue Augen, leb wohl, feuchter zuckender Mund! Oft noch hatte er ihn zu küssen gehofft. Oh, noch heut auf den Hügeln, in der Spätherbstsonne, wie hatte er ihrer gedacht, ihr angehört, sich nach ihr gesehnt! Aber Abschied nehmen mußte er auch von den Hügeln, von der Sonne, vom blauen weißgewölkten Himmel, Abschied von den Bäumen und Wäldern, von der Wanderschaft, von den Tages-zeiten und Jahreszeiten. Nun saß vielleicht Marie noch auf, die arme Marie mit den guten liebenden Augen und dem hinkenden Gang, saß und wartete, schlief in ihrer Küche ein und wachte wieder auf, und kein Goldmund kam mehr nach Hause.
Ach, und das Papier und der Zeichenstift, und die Hoffnung auf alle die Figuren, die er noch hatte machen wollen! Dahin, dahin! Und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Narziß, mit dem lieben Jünger Johannes, auch sie mußte er hingeben.
Und Abschied nehmen mußte er von seinen eigenen
Händen, von seinen eigenen Augen, von Hunger und
Durst, Speise und Trank, von der Liebe, vom Lauten-spielen, vom Schlafen und Erwachen, von allem. Morgen flog ein Vogel durch die Luft, und Goldmund sah ihn nicht mehr, es sang ein Mädchen im Fenster, und er hörte es nicht mehr singen, es lief der Strom und schwammen stumm die dunkeln Fische, es ging ein Wind und fegte das gelbe Laub am Boden, es schien eine Sonne und ein Ster-nenhimmel, es zogen junge Leute zum Tanzplatz, es lag ein 269
erster Schnee auf den fernen Bergen – und alles ging weiter, alle Bäume legten ihre Schatten neben sich, alle Menschen blickten froh oder traurig aus ihren lebendigen Augen, die Hunde bellten, die Kühe brüllten in den Ställen der Dorfer, und alles ohne ihn, alles gehörte ihm nicht mehr, von allem war er weggerissen.
Er roch den Morgengeruch der Heide, er schmeckte den süßen jungen Wein und die jungen festen Walnüsse, es flog eine Erinnerung, ein aufleuchtender Widerschein der ganzen farbigen Welt durch sein bedrängtes Herz, untersin-kend und Abschied nehmend glänzte das ganze schone wirre Leben noch einmal durch alle seine Sinne, und er zog sich in ausbrechendem Weh zusammen und fühlte Träne um Träne aus seinen Augen rinnen. Aufschluchzend gab er sich der Woge hin, heftig flossen seine Tränen, zusammenstürzend gab er sich dem unendlichen Weh anheim. Oh, ihr Täler und waldigen Berge, ihr Bäche im grü-
nen Erlengeholz, ihr Mädchen, ihr Mondabende auf den Brücken, o du schöne strahlende Bilderwelt, wie soll ich dich lassen? Weinend lag er über dem Tisch, ein trostloses Kind Aus der Not seines Herzens stieg ein Seufzer und flehender Klageruf »O Mutter, o Mutter!«
Und indem er den Zaubernamen sprach, antwortete
ihm ein Bild aus der Tiefe seiner Erinnerung, das Bild der Mutter. Es war nicht die Muttergestalt seiner Gedanken und Künstlerträume, es war das Bild seiner eigenen Mutter, schön und lebendig, wie er es seit den Klosterzeiten nie mehr gesehen hatte. An sie richtete er seine Klage, ihr weinte er dies unerträgliche Leid des Sterbenmüssens entgegen, ihr gab er sich
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