Narziss und Goldmund
Milch in der Hütte. Eben war sie noch Obdach und Heimat gewesen, sch on ward sie wieder Fremde. Grü ßend ging er hinaus.
Jenseits der Hütten fand er eine Kapelle stehen, und in ihrer Nähe ein schönes Gehölz, eine Gruppe alter starker Eichen, mit kurzem Grase darunter. Hier im Schatten blieb er und wandelte spazierend zwischen den dicken Stämmen hin und wider. Sonderbar, dachte er, war das mit den Frauen und der Liebe; sie bedurften in der Tat keiner Worte. Eines Wortes hatte die Frau bloß bedurft, um ihm den Ort des Stelldicheins zu bezeichnen, alles andere hatte sie nicht mit Worten gesagt. Womit denn? Mit den Augen, ja, und mit einem gewissen Klang in der etwas belegten Stimme, und noch mit irgend etwas, einem Duft vielleicht, einer zarten, leisen Ausstrahlung der Haut, an welcher Frauen und Männer es sofort erkennen konnten, wenn sie einander begehrten. Merkwürdig war es, wie eine delikate Geheimsprache, und so rasch hatte er diese Sprache gelernt! Er freute sich sehr auf den Abend, er war voll Neugierde, wie diese große blonde Frau sein möchte, was für Blicke und Töne, was für Glieder, Bewegungen und Küsse sie haben würde – gewiß ganz andere als Lise. Wo mochte sie jetzt sein, die Lise, mit ihrem schwarzen straffen Haar, ihrer braunen Haut, ihren kurzen Seufzern? Hatte ihr Mann sie geschlagen? Dachte sie noch an ihn? Hatte sie schon wieder einen neuen Liebhaber gefunden, so wie er heut eine neue Frau gefunden hatte? Wie schnell ging das alles, wie lag überall das Glück am Wege, wie schön und heiß war es und wie sonderbar vergänglich! Es war Sünde, es war Ehebruch, noch vor kurzem hätte er sich lieber tö ten lassen, als diese Sünde zu begehen. Und jetzt war es schon die zweite Frau, auf die er wartete, und sein Gewissen war still und ruhig. Das heißt, ruhig war es vielleicht doch nicht; aber es war nicht der Ehebruch und die Wollust, wegen der sein Gewissen manchmal unruhig war und Last trug. Es war etwas anderes, er konnte es nicht mit Namen nennen. Es war das Gefühl einer Schuld, die man nicht begangen, sondern schon mit sich zur Welt gebracht hat. Vielleicht war es dies, was in der Theologie Erbsünde genannt wurde? Es mochte wohl sein. Ja, das Leben selbst trug etwas wie Schuld in sich – warum sonst hätte ein so reiner und so wissend er Mensch wie Narziß sich Bußü bungen unterzogen wie e in Verurteilter? Oder warum hät te er selbst, Goldmund, irgendwo in der Tiefe diese Schuld fühlen müssen? War er denn nicht glücklich? War er nicht jung und gesund, war er nicht frei wie der Vogel in der Luft? Liebten ihn nicht die Frauen? War es nicht schön zu fühlen, wie er als Liebender dieselbe tiefe Lust, die er empfand, dem Weibe geben durfte? Warum also war er dennoch nicht ganz und gar glücklich? Warum konnte in sein junges Glück ebenso wie in Narzissens Tugend und Weisheit zuzeiten dieser merkwürdige Schmerz dringen, diese leise Angst, diese Klage um die Vergänglichkeit? Warum mußte er so manchmal grübeln, nachdenken, obwohl er doch wußte, daß er kein Denker sei?
Nun, dennoch war es schön zu leben. Er pflückte im Grase eine kleine violette Blu me, hielt sie nah ans Auge, blickte in die kleinen engen Kelche hinein, da liefen Adern und lebten winzige haarfeine Organe; wie im Schoß einer Frau oder wie im Gehirn eines Denkenden schwang da Leben, zitterte da Lust. O warum wußte man so gar nichts? Warum konnte man nicht mit dieser Blume sprechen? Aber es konnten ja nicht einmal zwei Menschen wirklich miteinander sprechen, dazu bedurfte es schon eines Glücksfalles, einer besonderen Freundschaft und Bereitschaft. Nein, es war ein Glück, daß die Liebe keiner Worte bedurfte; sie wäre sonst voll Mißverständnis und Torheit geworden . Ach, wie Lises Auge, das halb geschlossene, im Übermaß der Wonne wie gebrochen war und nur noch Weißes im Schlitz der zuckenden Lider gezeigt hatte – mit zehn tausend gelehrten oder dichteri schen Worten war das nicht auszusprechen! Nichts, ach nichts überhaupt ließ sich irgend aussprechen, irgend ausdenken – und dennoch hatte man in sich immer wieder das drängende Bedürfnis zu sprechen, den ewigen Antrieb zu denken!
Er betrachtete die Blätter der kleinen Pflanze, wie sie um den Stengel her so hübsch, so merkwürdig klug geordnet waren. Schön waren die Verse des Vergil, er liebte sie; aber es stand mancher Vers im Vergil, der nicht halb so klar und klug, nicht halb so schön und sinnvoll war wie die spiralige Ordnung
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