Narzissen und Chilipralinen - Roman
übersehen habe. Was erwarte ich denn? Einen Schriftzug an der Wand, der mir verrät, wer sie entführt hat? Ob sie irgendwo verscharrt in einem Waldstück liegt?
»Woher weißt du das? Warst du schon mal da?«
Tabita glüht auf. Was interessant zu beobachten ist. Rasch zähle ich eins und eins zusammen.
»Du warst dort – bei Jeremy?« Jeremy ist Tines kleiner Bruder, wenn auch nicht ganz so klein wie meiner. Er müsste so um die elf, zwölf Jahre alt sein. Also so alt wie Tabita. »Du bist mit Jeremy befreundet?«
Man könnte eine Steinofenpizza auf ihrer Stirn aufbacken.
»Du hast einen Freund?« Ich fasse es nicht. Meine kleine Schwester ist ... klein. Sie ist viel zu jung, um einen Freund zu haben. In dem Alter hätte ich noch nicht mal davon geträumt, dass mich jemals irgendjemand gut findet, weil ich noch viel zu sehr mit meiner rosaroten Diddl-Sammlung beschäftigt war!
Tabita atmet tief durch und ist wieder sie selbst, frech und selbstsicher. »Ich kenne Tines Zimmer«, sagt sie. »Aber ich war schon lange nicht mehr dort, dass du’s nur weißt. Ist schon ein halbes Jahr her oder so. Zeig mal.«
»Du sagst aber keinem, dass ich die Bilder gemacht hab.«
»Schon klar.« Sie muss nicht betonen, dass ich im Gegensatz dazu meinen Mund halten muss, was den kleinen Jeremy betrifft. Dabei bin ich immer noch ganz fassungslos.
»Sieht genauso aus wie früher«, stellt sie fachmännisch fest. »Keine Veränderung. Nur das
Kutless
-Poster, das hatte sie damals noch nicht. Weiter.«
Sie starrt weiter auf den Bildschirm, starrt und starrt, während ich mich durch die Bilder klicke.
»Weiter. Weiter. Halt, warte. Weiter. Weiter.«
Ich tue ihr den Gefallen.
»Hm. Das ist komisch«, sagt sie.
»Was?« Hat sie die Schrift an der Wand entdeckt, die für mich unsichtbar ist?
»Tine ist doch mit Finn zusammen, oder? Warum«, sie schaut mich bedeutungsvoll an, »hat sie dann überhaupt keine Bilder von ihm? Nicht auf ihrem Nachttisch und nicht auf dem Regal und eigentlich überhaupt nicht?«
Ich sehe mich in meinem Zimmer um. Da liegt die CD, die ich von Daniel hab, da die Schachtel, die noch halb mit Pralinen gefüllt ist. Die getrockneten Rosen hängen von der Decke. Die Wand dahinter habe ich mit Fotos verschönert: von Daniel allein, von Daniel und mir. Daniel von vorn, im Profil, von weitem, von ganz nah. Wir zusammen auf dem Schlitten, im Wohnzimmer, im Garten. Auch auf meinem Schreibtisch habe ich ein paar Schnappschüsse von ihm und von uns beiden aufgestellt. Natürlich habe ich ein Bild von ihm in meinem Portemonnaie. In der Tat habe ich sogar schon mal überlegt, ob man nicht Bettwäsche mit privaten Fotos bedrucken könnte.
»Tja«, sage ich. Dann schlage ich zurück: »Jeremy-Fotos gibt’s bei dir auch nicht.«
»Das ist schon vorbei«, erwidert sie gefasst. »Außerdem war das heimlich. Aber Tine und Finn, das war ja wohl kein Geheimnis. War sie überhaupt richtig in ihn verliebt?«
»Er hat ihre Bibel«, sage ich, denn ich bin gespannt, was sie dazu sagen würde.
»Was macht er denn damit?«, fragt sie neugierig. Tabita tut meistens ziemlich cool, aber sie ist unglaublich romantisch veranlagt. »Trägt er sie in der Hemdtasche herum oder so?«
»Dafür ist sie zu groß.«
»Wo hat er sie dann? Benutzt er sie beim
Life and Hope
?«
»Nein, da hat er immer seine eigene mit, die mit den vielen Zetteln.«
Auf einmal bin ich neugierig, wie es wohl in Finns Zimmer aussieht. Was mich zu der Frage bringt, wie ich wohl in Finns Wohnung reinkomme, ohne zu lügen.
15.
»Oh«, sagt Finn, als Daniel und ich vor der Tür stehen. Ich habe nicht angerufen, damit er nicht vorgewarnt ist.
Finn wohnt noch zu Hause, in einem zweistöckigen Reihenhaus, im oberen Stockwerk. Im Treppenhaus riecht es nach abgestandener Luft. Er öffnet selbst, doch hinter ihm erscheint sofort Frau Erlmeyer, seine Mutter. »Wer ist denn da?«
»Freunde«, ruft er ihr zu. »Kommt doch rein«, sagt er dann zu uns. Er ist verwundert, klar, vor allem, da wir ja nun nicht gerade die besten Freunde sind. Ich überlege, ob ich mich darüber freuen soll, dass er uns vor seiner Mutter so nennt.
Es wäre zu schön gewesen, wenn er uns gleich seine Sachen vorführen würde, aber er bittet uns bloß ins Wohnzimmer.
»Nett, dass ihr vorbeikommt.« Er fährt sich durch die Haare, nervös, kratzt sich am Kinn. »Ich bin gerade von der Arbeit zurück, habt ihr was dagegen, wenn ich kurz dusche?«
Haben wir natürlich nicht. Finn
Weitere Kostenlose Bücher