Narzissen und Chilipralinen - Roman
Kleiderschrank und einen unters Bett, dann schnappe ich mir irgendein Buch, das auf dem Schreibtisch liegt – es gehört Tine, eindeutig, aber das soll jetzt egal sein, ich kann es ihr ja zurückgeben, wenn sie wieder auftaucht –, und gehe wieder runter, in die Küche, wo Daniel Tines Mutter in ein Gespräch verwickelt hat.
Er nickt mir erleichtert zu. »Hast du es?«
Ich halte es kurz hoch und verstaue es dann in meiner Tasche, bevor Frau Behrmann irgendetwas einwenden kann, zum Beispiel dass sie es Tine zu Weihnachten geschenkt hat und es daher unmöglich aus einer Bücherei stammen kann. Dann verschwinden wir wieder. Ich bin schon an der Tür, als mir noch etwas einfällt.
»Tschuldigung«, sage ich, »aber mir ist was aufgefallen – hat Tine denn keine Bibel? Ich hab gar keine gesehen.«
Frau Behrmann ringt sich ein Lächeln ab. »Tine liebt ihre Bibel«, sagt sie. »Sie wäre nie ohne sie weggegangen.«
»Aber dann ... dann glauben Sie, sie ist freiwillig weggegangen? Sie ist von zu Hause weggelaufen?«
»Sie ist so ein liebes Mädchen«, flüstert die Mutter. »Die Bibel war noch da, als sie verschwunden ist. Finn hat darum gebeten, ob er sie haben darf.« Sie nickt vor sich hin, und für einen Moment ist sie in einer anderen, glücklicheren Welt, in der ihre liebe Tine noch da ist.
Schweigend gehen Daniel und ich zur Garage, wo unsere beiden Fahrräder stehen. Wir schieben sie vom Hof, jeder in seinen Gedanken versunken.
»Ich dachte schon«, sagt er schließlich. »Wenn Tine die Bibel eingepackt hätte ... Aber jetzt sieht es danach aus, dass ihr wirklich etwas zugestoßen ist. Ihre Mutter glaubt das jedenfalls.«
»Was will denn Finn mit Tines Bibel?«
»Ein Andenken?«, überlegt er. »Er will etwas von ihr in der Hand halten, das ihn an sie erinnert. Etwas, das sie geliebt hat.«
Er schaut mich von der Seite her an.
»Was würdest du nehmen, wenn ich weg wäre?«, frage ich ihn.
»Stell mir nicht solche Fragen«, sagt er heiser. »Du bist hier, und das soll auch so bleiben.«
»Nein, im Ernst.« Ich will es jetzt wissen. »Würdest du meine Eltern um meine Bibel bitten? Wer kommt denn auf so eine Idee? Warum nicht, ich weiß nicht ... Unterwäsche?«
»Unterwäsche?« Daniel schüttelt den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Soll er zu ihrer Mutter gehen und sagen: Ach, und ich hätte gern den BH Ihrer Tochter, zum Andenken, falls sie tot ist?«
Es mag vielleicht unpassend sein, aber ich muss lachen. »Nein, ihren BH hat er bestimmt schon.«
»Warum sollte er? Ich hab auch keinen von dir.«
Ich werde ein kleines bisschen rot. »Ach nein. Hättest du gerne einen?«
Daniel lacht auch. »Nicht nötig, lass ihn ruhig an.« Dann wird er schlagartig wieder ernst. »Hat es sich denn gelohnt? Hast du irgendwas rausgekriegt?«
Ich muss leider verneinen. Dass Tine ordentlich ist, habe ich schon vorher gewusst. Dass sie auf
Casting Crowns
steht, auch.
»Ich wünschte nur, wir hätten nicht gelogen«, sagt Daniel leise. »Wir hätten Frau Behrmann auch einfach darum bitten können, Tines Zimmer anzusehen. Wahrscheinlich hätte sie es uns sogar erlaubt.« Er bleibt stehen, die Hände am Fahrradlenker. Wir müssen beide unsere Räder festhalten, wie ein Wall stehen sie zwischen uns.
»Aber es war doch für einen guten Zweck!« Ich zwinkere die Tränen zurück. Auf keinen Fall will ich heulen, nur weil er mich kritisiert hat. Es ist schlimm für ihn, wenn ich lüge, das sollte ich mir merken. So wie es für mich unerträglich ist, wenn Mandy klaut. Auf einmal habe ich wieder Angst, diese schreckliche Angst, dass Daniel mich aufgibt, weil mir immer wieder solche Dinge passieren.
Ich schlucke die Tränen hinunter. »Ich hätte es wenigstens versuchen können, stimmt«, gebe ich zu. Vielleicht hätte es Frau Behrmann etwas bedeutet, wenn sie wüsste, dass Tines Freunde sie vermissen und nach einem Weg suchen, zu helfen. Und nicht nur Mahngebühren für Bücher vermeiden wollen.
Wieder einmal habe ich es verpatzt. Mein Vater war von mir beeindruckt. Sogar Tom war beeindruckt. Zu gerne würde ich auch mal Daniel beeindrucken.
»Was guckst du dir da an?« Tabita kommt wie immer ohne anzuklopfen in mein Zimmer. Ertappt stelle ich den Bildschirm aus, aber sie hat es schon gesehen. »Das ist bei Tine!«
Ich hab mit dem Handy Fotos gemacht, die ich mir wieder ansehe, vergrößert am Computer. Ich glotze sie an, als könnte ich beim tausendundersten Mal etwas entdecken, das ich beim tausendsten Mal
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