Naschkatze
vor mir ab und wird schon bald in der ganzen Nachbarschaft diskutiert, was Mrs. Dennis’ rasanten Telefonaten zu verdanken ist. Wie ich später erfahre, hat Dr. Dennis auf die Neuigkeit nur mit verkniffenen Lippen und einem Gang zum Barschrank reagiert.
Aber Mrs. Dennis lässt sich zur regionalen Sprecherin einer landesweiten Organisation wählen, die sich für die Eltern, Verwandten und Freunden von Schwulen und
Lesben einsetzt. »Auch für Bisexuelle«, erklärt sie meiner Mutter beim Weihnachtsdinner. Dabei platzt sie beinahe vor Stolz. »Wir sorgen für die Gesundheit dieser Menschen.«
»Wie nett«, meint Mom.
»Möchten Sie beitreten? Hier habe ich eine Broschüre.«
»Oh.« Mom legt ihre Gabel beiseite, die sie mit Yorkshire-Pudding gefüllt hat. »Sehr gern.«
Shari zwinkert mir über den Tisch hinweg zu. Hat er angerufen?, formen ihre Lippen. Im Gegensatz zu mir glaubt sie nicht, dass es zwischen Luke und mir aus ist. Sie ist fest davon überzeugt, dass er mich anruft und wir uns aussprechen und dass dann alles wieder gut wird. Sie lebt in einer Fantasiewelt. Wahrscheinlich hängt das mit den Enten zusammen.
Am Weihnachtstag geht’s im Nichols-Haushalt immer drunter und drüber, weil Mom alle Kinder und Enkel um sich schart, dazu Grandma, die Dennis’ und die jeweiligen Assistenten meines Dads in der Computer-Abteilung am College – Studenten, die sich zu den Feiertagen keine Heimreise leisten können. Die bringen immer Gerichte aus ihren Heimatländern mit, und so besteht unser festliches Menü oft aus Beef Wellington mit malaiischen Kopftas, das sind Hackbällchen, und einem Korb voller frisch gebackener Poori, indischen Bällchen aus Puffreis.
Da gibt es kein Entrinnen vor kreischenden Kleinkindern und der schrillen Stimme meiner Mutter, die bei der Muppet-CD mitsingt; vor der geduldigen Erklärung des Studenten, die defokussierende Wirkung des radialen Feldgefälles würde durch die Kanten der Magnetfronten kompensiert, die das Feld azimutal variieren; vor Roses
Zusammenbruch, weil ihr letzter Schwangerschaftstest zwei blaue Linien gezeigt hat statt der erwarteten einen; und vor Sarahs Zorn, weil sie sich weißgoldene Ohrstecker mit Diamanten gewünscht und von ihrem Mann gelbgoldene bekommen hat. (»Ist der farbenblind, oder was?«)
Die ganze Zeit umklammere ich mein Handy. Manchmal glaube ich, es würde zucken. Aber vermutlich spüre ich nur meine Herzschläge, denn er ruft nicht an. Nicht einmal, um mir frohe Weihnachten zu wünschen.
Und ich rufe ihn auch nicht an. Wie könnte ich?
Als ich die Kellertreppe hinabsteige, um Zuflucht vor Kindertränen und endlosem Geschwätz zu suchen, treffe ich Grandma vor dem Flachbildfernseher an. Den haben meine Eltern für sie kaufen müssen. Darauf hat sie bestanden. Sie sieht gerade »Ist das Leben nicht schön?«, in der ursprünglichen, nicht kolorierten Version.
»Hi, Gran.« Ich setze mich zu ihr auf die Couch. »Jimmy Stewart, was?«
Sie grunzt. Natürlich entgeht mir die Flasche Budweiser in ihrer Hand nicht. Angelo, Roses idiotischer Ehemann, hat die Flasche mit alkoholfreiem Bier gefüllt, was keine Rolle spielt. Später wird Grandma so oder so ihre Schwipsnummer abziehen.
»Damals wussten sie noch, wie man richtige Filme dreht«, murmelt sie und zeigt mit der Bierflasche auf den Bildschirm. »So wie den da. Und der andere, mit diesem Rick – wie heißt er doch gleich? Ach ja, ›Casablanca‹. Das waren richtige Filme. Keine Explosionen, keine sprechenden Affen. Nur schlaue Dialoge. Jetzt weiß niemand mehr, wie man solche Filme macht. Offenbar laufen in Hollywood nur noch geistig zurückgebliebene Typen herum.«
Ich spüre mein Handy beben. Aber es ist nichts. Dann muss ich den Kopf senken, um meine Tränen zu verbergen.
»Ja, der Junge ist gut«, fährt Grandma fort und zeigt auf Jimmy Stewart. »Aber ich mag auch diesen Rick, dem das Café in Casablanca gehört hat. Also, der war Klasse. Erinnerst du dich, wie er dem Ehemann des Mädchens geholfen hat, das Geld zu gewinnen? Damit sie nicht mit dem Franzosen schlafen musste? Da siehst du, was einen echten Mann ausmacht. Und was kriegt Rick für all seine Mühe? Gar nichts. Nur seinen Seelenfrieden. Dieser faule Zauber, den Brad Pitt da treibt, der interessiert mich nicht. Was leistet der denn schon, außer sein Hemd auszuziehen und eine Horde Waisenkinder zu adoptieren? Rick zieht sein Hemd nie aus. Das hat er nicht nötig! Den müssen wir nicht nackt sehen, um zu merken, dass er
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