Naschmarkt
begibt, auf den Stuhl steigt und von dort aus in sämtliche Richtungen fotografiert. Vermutlich erwischt er so den perfekten Moment, als Sorina Loos mit einem Wutschrei aus ihrem Büro stürzt und ohne ein einziges Mal Luft zu holen brüllt: »WELCHER ARSCH HAT SICH BEI DER POLIZEI FÜR MICH AUSGEGEBEN, UND WER PFLANZT ÜBERHAUPT BÄUME AM HELDENPLATZ?«
Irgendetwas sagt mir, dass das alles keiner von meinen Tagträumen ist, sondern verflixte Realität. Bloß, dass heute anscheinend irgendwer die Realität mit Tabasco und Irrsinn gewürzt hat.
»Frau Wilcek?« Die Stimme, die in der absoluten Stille nach Sorina Loos’ Wutschrei sanft und melodisch klingt, löst einen kalten Schauer in meinem Genick aus. Langsam, mit möglichst ausdrucksloser Miene, drehe ich mich um und blicke direkt in Beatrice Kleidermanns blaue Augen.
»Gut, dass ich Sie treffe. Schließlich sollten Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.«
Sie lächelt. Ihr dunkelbrauner Lippenstift passt perfekt zum Hosenanzug, der ihre schlanke Taille betont. Ich vermute, es gehört enorm viel Disziplin dazu, so in Form zu bleiben.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sage ich.
Ihr Lächeln sitzt ebenso tadellos wie der Hosenanzug.
»Sehen Sie, Frau Wilcek, und genau das ist Ihr Problem. Sie haben keine Ahnung.«
Obwohl ich noch wahrnehme, wie Sorina Loos drohend in meine Richtung deutet, gelingt es mir nicht, meinen Blick von dem Gegenstand abzuwenden, den Beatrice Kleidermann langsam aus der Tasche ihres Blazers zieht. Es handelt sich um einen goldenen Umschlag.
Liebst du schon oder lebst du noch?
Melange
Donnerstag, 10. November
Eine Spezies, die man vorzugsweise an Samstagen in den Textilabteilungen einschlägiger Möbelhäuser antrifft, sind die Ikeapärchen. Es handelt sich dabei um eine besondere Mutation siamesischer Zwillinge mit zwei Körpern, die sich ein einziges Hirn teilen. Man erkennt sie daran, dass sie stets nur im Doppelpack auftreten, sich optisch im Lauf der Jahre immer ähnlicher sehen und das Wort »ich« in ihrem Vokabular vollständig durch »wir« ersetzt haben.
»Wir mögen keine Avocados.«
»Wir trinken nur laktosefreie Milch.«
»Wir wählen liberal.«
Dennoch gelingt es ihnen, über die Anschaffung einer Schiebegardine namens Evabritt Grundsatzdiskussionen zu führen, die in einträchtig gekränktem Schweigen enden.
Oberstes Ziel aller Partnerbörsenuser dieser Welt ist es, Teil eines Ikeapärchens zu werden. Solange man seinen Einkaufswagen solo durch die Gänge des Lebens navigiert, wird man bedauert. Was für eine grässliche Vorstellung, das Billy-Regal allein zusammenschrauben zu müssen, während einem niemand die Schrauben durcheinanderbringt oder einen anbrüllt, weil man offensichtlich die Beschreibung nicht lesen kann! Es gibt kaum gesellschaftliche Akzeptanz für Einspänner im Zeitalter der Melange.
Ich vermute ja, dass es sich dabei um kollektives Rachedenken handelt. »Wir hassen Menschen, die sich eigenmächtig zwischen Bettwäsche Birgit und Henny entscheiden dürfen!« Wahrscheinlich sind Partnerbörsen von Ikeapärchen erfunden worden, um den glücklichen Singles Einhalt zu gebieten.
Während die Fassade des Ikea-FAMILY-Clubs bröckelt und sich herausstellt, dass nicht mal die knäckebrotigste Liebe romantisch ewiglich funktioniert, sitze ich zu später Stunde vor meinem Computer und denke über den bittersüßen Geschmack der Melange nach.
»Ich glaube, dass es da draußen diesen einen Menschen gibt, mit dem ich es ertrage, Tisch, Bett und sogar meine Manner-Schnitten mit Zitrone zu teilen«, schreibt soloprojekt 0708 in seinem Literally-in-Love-Profil.
»Ich bin mir sicher, dass Liebe existiert«, vermeldet funkstille 1 .
Gegen meinen Willen lese ich die Nachrichten in meinem Posteingang. Ich denke über die vergangenen Wochen nach, und an einer Stelle bleibe ich hängen:
Man sieht sich selbst nicht wachsen. Sogar wenn man tagelang vor einem Spiegel ausharren würde, man könnte keinen Unterschied feststellen.
Aber falls es so ist, dass man das Wachstum nicht sehen kann, woher weiß man dann, ob es einen verändert hat? Oder tragen wir das, was wir werden können, schon von Anfang an auf der Stirn geschrieben?
Eine Menge Verwirrung und die bange Frage: Wie viel Ikeapärchen steckt bereits genetisch in uns?
(follow @dottiliest bei Twitter)
Freitag, 11 . November
»Hier muss es sein.« Ich checke die GPS -Koordinaten mit dem iPhone. Kein Zweifel. Wenn meine
Weitere Kostenlose Bücher