Naschmarkt
Akku ist gleich leer«, lüge ich, »könntest du mal diese Nummer für mich anrufen, die hier steht?«
Wenn dieses Fax der plumpe Versuch ist, an meine Handynummer zu kommen, dann werde ich bestimmt nicht so blöd sein, sie ihm auf dem Silbertablett zu servieren. Leni Treus Diensthandy eignet sich viel besser, um der Spur zu folgen.
»Vier, acht, zehn, einundvierzig, null, null?«, fragt Leni mit gerunzelter Stirn.
»Ja, genau. Würdest du …«
»Das ist keine Telefonnummer. Achtundvierzig ist die Ländervorwahl von Polen, aber es gibt in Polen keine Vorwahl zehn. Krakau hat zwölf, das ist die niedrigste. Anrufen kann man da auf keinen Fall.«
»Nicht?« Enttäuscht sehe ich Leni an. Ich weiß, dass sie jahrelang in der Auslandsredaktion gearbeitet hat und sich mit solchen Dingen auskennt. Außerdem kenne ich keine Frau, die so viel unnützes Wissen bei Facebook verbreitet wie Leni.
»Es ist auch keine Handynummer«, ergänzt sie nachdenklich. »Die fangen in Polen mit sechs oder neun an, soweit ich mich erinnere.«
Geknickt will ich das Fax wieder an mich nehmen, als Leni es zurückzieht und die Zahlen genauer studiert.
»Es ist ungewöhnlich, es so zu schreiben, ohne Punkt und Komma. Und es fehlt die Länge zur Breite. Aber möglich ist es trotzdem. Plus achtundvierzig, Dotti.«
Ich verstehe nur Bahnhof.
»Der Breitengrad. Achtundvierzig, das ist die erste Stelle des Breitengrads, an dem Wien liegt. Der Breitengrad wird in Grad, Minuten und Sekunden angegeben. Die
Plus Achtundvierzig
könnte also den achtundvierzigsten Breitengrad meinen und die restlichen Zahlen die Minuten und Sekunden einer bestimmten Koordinate.«
Vor Aufregung schüttle ich Lenis Hand, ohne meine abgetrocknet zu haben.
»Leni, du bist ein Schatz«, rufe ich, packe den Zettel und verlasse im Laufschritt das Örtchen des Geschehens. Nur ein echter Nerd kann mir jetzt weiterhelfen.
»Lorenz?« Ich habe die Redaktion halb durchquert, als ich beinahe über meinen Kollegen stolpere, der auf Knien zwischen den Schreibtischen des Großraumbüros herumkriecht, in der rechten Hand eine Digicam. Er macht ein Foto von meinen Beinen und studiert es ausführlich auf dem Display, anschließend hebt er den Kopf, sieht mich traurig an und meint: »Ich finde sie nicht.«
»Wen?«
»Orbs.«
»Das sind Chucks.«
»Chucks?« Er verengt die Augen hinter seiner Brille zu schmalen Schlitzen. »Sind die verwandt mit Orbs?«
»Sie sind mit niemandem verwandt. Es sind nämlich
Schuhe.
«
»Schuhe«, wiederholt er, als hörte er das Wort zum ersten Mal. Ich frage mich, ob bei ihm eine Schraube locker ist oder ob ihn Scotty einmal zu oft gebeamt hat.
»Warum knipst du überhaupt meine Schuhe?«
»Ich knipse nicht deine
Schuhe
«, antwortet er, während er aufsteht und sich den Schmutz von den Hosenbeinen klopft.
»Sondern?«
»Orbs.«
»Was zum Teufel sind Orbs?«
»Bälle.«
»Spielst du jetzt Indoor-Golf?«
»Keine
echten
Bälle.«
Er verdreht die Augen, als wäre ich die mit der lockeren Schraube.
»Orbs sind kreisrunde, milchige, durchsichtige Flecken, die sich auf Digitalfotos zeigen. Paranormale Manifestationen, die für das menschliche Sehorgan nicht verifizierbar sind. Genial, oder? Ich versuche, Orbs hier in der Redaktion zu finden.«
»Du meinst Reflexionen von Blitzlicht. Durch Staubkörner und so.«
»Nein. Ich meine Orbs.«
»Ja, klar. Hör zu, Lorenz, ich brauche dringend deine Hi…«
Ohne Vorwarnung blitzt er mir mit der Digitalkamera ins Gesicht.
»Spinnst du?«
Er studiert das Display.
»Wieder nichts. Du bist ein No-Orb, Dotti.«
»Fein. Hör zu, du musst mir helfen. Du kennst dich doch sicher mit Geocaching aus. Ich brauche einen Plan von Wien, auf dem ein ganz bestimmter Breitengrad eingezeichnet ist.«
Lorenz legt den Kopf schief und betrachtet mich nachdenklich.
»Sorry, Dotti, ich bin gerade zeitmäßig total am Limit.«
»Womit? Mit der Jagd nach Orbs?«
Wut kocht in mir hoch und riecht ein bisschen nach Chicken Tikka Masala. Dass Lorenz Kanzler keine Zeit hat, ist zuletzt in den neunziger Jahren vorgekommen, als
Raumschiff Voyager
im Fernsehen lief.
»Wenn es um die Halloweenparty geht, Lorenz, ich …«
»Lass mich doch einfach in Frieden!«, schreit er plötzlich. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, Dorothy, ich
arbeite
hier. Und zwar nicht als dein persönlicher Fachtrottel.«
Nach diesem Ausbruch lässt er mich stehen. Ich sehe ihm mit offenem Mund nach, wie er sich zu seinem Schreibtisch
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