Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
eigene. Zu einer Seite fiel der Blick auf eine Kniebank aus Drachenhorn, an den Wänden hingen einige vor den Flammen gerettete Gemälde, die die Kleine Mutter in Kinder- und Jugendtagen zeigten, zunächst noch als Novizin, dann als junge Priesterin. Ein drittes Gemälde stellte sie so dar, wie sie noch vor einigen Jahren ausgesehen hatte, als reife Frau auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Genau unter diesem Bild stand ihr Bett, mit einem hohen Kopfende aus edlem, mit kunstvollen Schnitzereien verziertem Holz, darum herum ein Baldachin, dessen hauchdünne, durchsichtige Vorhänge zugezogen waren.
Kora zog den Stoff zurück und hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken. Da lag die Kleine Mutter, das Haar zerzaust und auf dem Kissen verteilt, während ihr faltiger Hals aus einem blütenweißen Nachthemd hervorragte. In diesem Bett, entblößt von allen Insignien ihrer Macht, zeigte sie sich als das, was sie war: eine alte Frau. Aber das war es nicht, was Kora vor Schrecken erstarren ließ. Es war die Blutlache, die das Betttuch auf der Höhe des Herzens durchtränkt hatte, sowie der gläserne Blick der weit aufgerissenen Augen.
»Guten Abend, Kora.«
Sie schrak auf und fuhr herum. Unmittelbar vor ihr zeichn ete sich im Halbschatten eine Gestalt ab, deren strenge Mien e nur halb zu erkennen war, die andere Hälfte ihres Gesichtes war von einer Kombattantinnenmaske verborgen. Alle Mosai ksteinchen fügten sich zusammen, und Kora begriff, wieso eine Sklavin, die sich zu dieser Stunde eigentlich nicht mehr außerhalb des Schlafsaals aufhalten durfte, sie aufgesucht und hierhergeführt hatte. Sie stöhnte.
Grele machte einen Schritt auf sie zu, und der Lichtschein fiel auf das unverborgene Lächeln, ein Lächeln, das eine Mischung aus Mitleid und Triumph war. »Arme Kora, was lässt du dich auch auf ein Spiel ein, das zu groß für dich ist? Ich hätte dich in Ruhe gelassen, aber so … bist du mir im Weg.«
Kora wollte losschreien, Hilfe rufen, doch ihr fehlte die Luft dazu. »Du … du hast sie ermordet«, stammelte sie.
»Nein, Kora, du warst es«, und damit zeigte ihr Grele den Dolch in der Hand. Kora erkannte ihn. Es war der Dolch, den sie sich vor einigen Tagen zum Schutz unter das Kopfkissen gelegt hatte, ein Familienerbstück, in dessen Griff die Initialen ihres Großvaters eingraviert waren. »Ich habe die Kleine Mutter schreien hören, bin hergelaufen und traf dich mit diesem Dolch in der Hand. Du wolltest fliehen, aber ich konnte dich aufhalten, und dabei hast du mich verletzt.« Und mit diesen Worten zog Grele sich die Klinge über den Unterarm, schnitt sich in die Haut, ohne den leisesten Schmerzenslaut, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. »Verstehst du nun?«, sagte sie, während das triumphierende Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und tiefer Trauer Platz machte.
Dann schrie sie auf, wobei sie den Dolch mit Wucht zu Boden warf, sich den Arm hielt und in Tränen ausbrach.
»Hilfe!«, rief sie verzweifelt. »Ach, o weh, die Kleine Mutter!« Sie schien jemand anderer geworden zu sein.
Kora begriff, dass sie augenblicklich fliehen musste. Sie sprang aus dem Fenster, das gut drei Ellen über dem Erdboden lag. Ein heftiger Schmerz von der Schulter bis zum Ellbogen durchfuhr sie, als sie unten aufschlug. Sie rappelte sich auf und rannte davon. Verzweifelt versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Wohin? Schon liefen auf der Plattform vor dem Tempel einige Leute zusammen, Schritte und Stimmen wurden laut. Da erinnerte sich Kora: der Lastenaufzug im Ostflügel des Klosterbereichs. Dort waren Instandsetzungsarbeiten im Gange, dort würde sie ein Versteck finden.
Sie hastete dahin und blieb unvermittelt stehen. Am Boden lag ein blutüberströmtes Bündel. Zitternd trat sie näher: Es war Galja, mit einer tiefen Wunde im Bauch und einem Gesichtsausdruck, der vollkommene Ruhe ausstrahlte, so als schlafe sie. Das war der Preis dafür, dass sie Greles Macht herausgefordert hatte. Ihre geliebte Dienerin, gnadenlos ermordet. Tränen schossen ihr in die Augen, aber ihr blieb keine Zeit, bei der Toten zu verweilen.
Sie erreichte den Raum, von wo der Lastenaufzug hinunterführte, und kletterte mühsam, mit schmerzender Schulter, auf das Gerüst. Das alles war ein Albtraum. Eine Stimme flüsterte ihr zu, sie solle aufgeben, weil alles umsonst sei, eine andere trieb sie an und befahl ihr, alles zu versuchen, um sich zu retten, weil sie verzweifelt am Leben hing. Sie ergriff ein Seil des Aufzugs und hievte
Weitere Kostenlose Bücher