Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
entschlossen hatte, bei ihnen zu leben.
»Sie hegten keinerlei Argwohn gegen Leute, die anders waren als sie selbst. Im Gegenteil. Gewalt war geächtet, und Kriege waren unbekannt. Sie hatten keine Könige und lebten in kleinen Städten, und einmal im Jahr kamen alle zusammen, um die wichtigsten Beschlüsse zu fassen, die die gesamte Gemeinschaft betrafen.«
»Unter solchen Leuten hätte ich auch gern gelebt«, bemerkte Saiph.
»Tiere genossen große Achtung, auch wenn sie eingesetzt wurden, um die tägliche Arbeit zu erleichtern.«
»Unfassbar …« Saiph dachte daran, wie es bei ihnen aussah: Zwar hatten sie jahrhundertelang in Frieden gelebt, aber nur weil ein ganzes Volk den Preis dafür zahlen musste.
»Auch unter ihnen gab es einst Hass und Gewalt. Aber weil sie nur mit knapper Not der Gefahr entronnen waren, sich gegenseitig auszulöschen, hatten sie der Gewalt abgeschworen und genug Kraft und Mut aufgebracht, ihren Lebensstil radikal zu ändern.« Verba nahm wieder einen langen Zug an der Pfeife. »Mit der Zeit bin ich ihnen immer ähnlicher geworden und war irgendwann praktisch einer von ihnen. Ich teilte ihre Anschauungen, ihre Gewohnheiten, ihre Hoffnungen, meine eigene Rasse hatte ich fast vergessen. Es gab da eine Frau … Man hatte sie mir zur Seite gestellt, damit sie mir alles Notwendige beibrachte. Aber mit ihr lernte ich sehr viel mehr als das, was das Leben der Assyten ausmacht. An ihr Gesicht kann ich mich kaum noch erinnern, aber ihren Namen weiß ich noch: Khler.«
»Was ist aus Khler und den anderen geworden?«, fragte Saiph.
Verbas Blick füllte sich mit Trauer. »Sie hatten herausgefunden, dass etwas mit den Sonnen nicht stimmte. Es war keine hoch entwickelte Gesellschaft, aber sie wussten sehr viel über den Lauf der Welt, weil sie wissbegierig waren. Sie hatten begriffen, dass sich das Klima veränderte. In den Jahren zuvor waren große Küstenabschnitte vom Meer verschlungen worden, dann wieder gab es Zeiten extremer Dürre, Überschwemmungen … und viele Angehörige dieser Rasse waren erkrankt.«
»Was war das für eine Krankheit?«
»Ihre Haut riss auf, und es bildeten sich Wunden, die zum Tode führten. Das Licht, das Cetus ausstrahlte, war sehr schädlich geworden. Khler verstand sich auf die Heilkünste und kannte sich mit dieser Krankheit besonders gut aus. Deshalb lud man sie in die Hauptstadt ein, wo eine Versammlung der weisesten Männer und Frauen von ganz Assys stattfinden s ollte. Einer der gelehrten Alten hatte kundgetan, er wisse, wa s v or sich gehe.« Verba schloss die Augen und zitterte leicht. »Ic h habe noch nie mit jemandem über diese Tage gesprochen … ich wusste nicht, dass es mir so schwerfallen würde …«
»Es tut mir leid, aber ich …«
»Ich weiß, ich weiß, du musst es wissen, das ist unser Fluch.«
Verba sammelte sich und nahm noch einen tiefen Zug.
»Die Reise dorthin war sehr beschwerlich, die ganze Natur schien aus den Fugen geraten. Die Hitze war unerträglich, das Licht der Sonnen änderte sich in einem fort, und eine der beiden schien am Himmel zu pulsieren. Uns allen war angst und bange. Es geschah, als wir gerade die Hauptstadt erreicht hatten: Ich stand vor dem Mehertheval, dem riesengroßen Olakite-Kristall, der im Stadtzentrum aufragte und in dem, dem Glauben dieses Volkes nach, die Geister aller Verstorbenen ruhten. Khler war bei mir, und ich hielt ihre Hand. Plötzlich war da ein unerträgliches Licht, ich verlor das Bewusstsein und versank in tiefen Schlaf. Als ich wieder zu mir kam, waren Tage, vielleicht Wochen, vergangen, und mein Körper begann sich zu erholen. Um mich herum aber war nichts mehr: Die Hauptstadt war ausgelöscht, von meinen Gefährten, den Assyten, von Khler keine Spur. Wohin ich auch blickte, nichts als Asche. Tagelang rief ich ihre Namen, suchte sie überall. Aber von ihrer Welt waren nur noch ein paar Trümmer übrig. Fast alles war dem Erdboden gleichgemacht worden. Nur der Mehertheval nicht: Unbeschädigt ragte er inmitten der Ruinenlandschaft auf und verströmte ein wohltuendes bläuliches Licht, das so stark war, dass es in den Augen wehtat. Es gab nur noch mich und diesen Kristall. Alles andere hatte sich im Nichts aufgelöst.«
Verba versank in Schweigen.
Saiph konnte es nicht fassen. Das Licht eines Augenblicks hatte gereicht und eine ganze Welt, eine ganze Zivilisation ausgelöscht. Das Volk der Assyten war hinweggefegt worden, und als einziges Zeugnis ihrer Kultur war ein Schiff erhalten
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