Nashira - Talithas Geheimnis: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
ihnen Melkise auf die Spur gekommen war, besaßen sie nicht mehr. Völlig ausgelaugt hatte ihn Talitha unter Saiphs Verband hervorgeholt und ihn wegwerfen müssen. Sie behalf sich mit den Bruchstücken, die sie dabeihatten, aber das Resultat war nicht das gleiche. Luftkristalle, die für Zauber gedacht waren, wurden üblicherweise von Orantinnen in den Klöstern präpariert, damit sie ihre volle Kraft entfalten konnten. Bruchstücke unbearbeiteter Luftkristalle funktionierten längst nicht so gut. Ausnahmsweise war Talitha froh über ihre schwache Resonanz, denn dadurch hatte sie sich umso mehr darum bemühen müssen, die Kontrolle ihres Es zu erlernen. Und das hatte sie geschafft, dank Schwester Pelei, auch dies ein Geschenk, das ihr diese Lehrerin in ihrer kurzen Zeit im Kloster gemacht hatte.
Jedenfalls kamen sie voran. Unterdessen hatte Saiph noch weitere Abschnitte aus Verbas Tagebuchs entziffert, und dadurch genauere Hinweise auf den Ort erhalten, wo der Ketzer Jahrhunderte zuvor Unterschlupf gefunden hatte.
Die nächtliche Bewölkung hatte sich aufgelöst, sodass sie sich nun über einen freundlichen Tag freuen konnten. Allerdings war der Weg noch glatter geworden. Zwar erfüllte ihr neues Schuhwerk weiterhin seinen Zweck, nutzte sich aber sehr schnell ab. Bald würden sie wieder Probleme bekommen.
Es war gegen die sechste Stunde, als Saiph feststellte, dass der blanke Erdboden sogar tückischer als das Eis sein konnte. Mit dem rechten Fuß streifte er eine Stelle, auf der nur Gras wuchs, das seinen Schritt abrupt hemmte. Der andere glitt weiter, Saiph verlor das Gleichgewicht, landete mit Schwung bäuchlings auf dem Boden und schlug mit dem Kinn auf. Er schrie vor Schmerz.
Talitha war sofort bei ihm: »Ist es schlimm?«
Er stand auf, schüttelte den Kopf und hielt sich den schmerzenden Kiefer. »Nein«, beruhigte er sie, doch allein das Aussprechen dieser einzigen Silbe war so schmerzhaft, dass ihm ein Stöhnen entfuhr.
Talitha wandte sich ab und ging weiter. »Ich hoffe, das geht wieder vorbei. Andernfalls müssen wir davon ausgehen, dass es stimmt, was die Femtitensagen berichten.« Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Ich habe darüber nachgedacht, und mir fällt keine andere Erklärung ein: Wenn die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, unter den Femtiten nur ihrem Erlöser gegeben ist, na dann …«
Mit einem Mal spürte Saiph die Kälte noch stärker. »Ach was. Da sind doch nur Ammenmärchen.«
»Meinst du? Viele scheinen schon überzeugt zu sein, dass du ihr Erlöser bist, manch einer im brennenden Orea hat im Sterben deinen Namen gerufen, mancher ist für dich gestorben. Aber du meinst, das ist alles reiner Zufall, nicht wahr? Nichts als Zufall …«
»Genau.«
»Nein, das ist nur deine Ausrede, damit du dich nicht an die Spitze deines kämpfenden Volkes setzen musst.«
Saiph biss so fest die Zähne zusammen, dass sie knirschten. »Willst du die Wahrheit hören?«, stieß er hervor. »Ich verrate sie dir, obwohl du im Bilde sein müsstest, wenn du mich wirklich so gut kennst, wie du glaubst. Ich bin nicht der Erlöser, aber auch wenn ich es wäre, will ich es nicht sein. Ich will nicht, weil es mir gereicht hat, was ich in Orea ansehen musste. Mir graust vor einer Welt, in der nur Krieg und Blutvergießen herrschen, einer Welt, in der dann vielleicht die Angehörigen meines Volkes alle möglichen Gräueltaten begehen, weil sie es den Talariten heimzahlen wollen. Du hast gesagt, du kennst unsere Sagen, nicht wahr? Dann weißt du ja, dass der Erlöser von den Göttern gesandt wird und für das Ende des jahrhundertelangen Bannes stehen soll, den uns die Götter auferlegt haben. Durch den Erlöser zeigen uns die Götter, dass sie uns das Sakrileg vergeben, das wir vor Jahrhunderten begangen haben: nämlich einen Drachen getötet und dessen Fleisch verzehrt zu haben, woraufhin wir mit dem Verlust des Schmerzempfindens bestraft wurden. Wenn die Femtiten nun aber mit dem Segen der Götter kämpfen, traue ich ihnen jede Gräueltat zu. Dann ist alles erlaubt, alles rechtens. Du hast meinen Femtitenbrüdern nicht in die Augen geschaut, hast nicht den Ausdruck in ihren Gesichtern gesehen, wenn sie abends tanzen und spielerisch die Schlachten aufführen, die sie schlagen wollen, und den Tag der Befreiung erflehen, du kennst die Texte ihrer Lieder nicht, in denen sie von den Göttern die Vernichtung der Talariten erflehen. Nein, ich will bei alldem nicht mitmachen.«
»Haben die Talariten nicht
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