Nashira
lang fragte sie sich, ob Talias schützende Hand das Tempelchen vor dem Feuer bewahrt hatte oder die Räuber die Göttin fürchteten und sich deshalb nicht an ihrem Haus vergangen hatten. Da ließ ein Geräusch sie aufschrecken. Das Mädchen griff zum Schwert. Sie zog es und bewegte sich mit klopfendem Herzen auf den Altar zu, von dem das Geräusch gekommen war
Hinter dem Altar stand ein hölzernes Schränkchen. Es war offen und ein Teil des Inhalts lag verstreut am Boden: halb verschimmelte Brote, bröselige Plätzchen – die Opfergaben armer Bauern an ihre Göttin. Daneben hockte jemand und wimmerte. Talitha brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, wer das war. Ein Kind, einen Femtitenjunge, verschmutzt und abgerissen, mit eingefallenen Wangen. Er hielt sich eine Hand vor die Augen, und an den Mundwinkeln hingen noch einige Krümel, während er leise weinend dasaß.
Saiph gab seiner Herrin ein Zeichen, das Schwert sinken zu lassen, und beugte sich zu dem Jungen hinab. Mit sanfter Stimme sprach er ihn an, und dieser antwortete stockend, von Schluchzern unterbrochen.
»Er ist nicht aus dem Ort«, übersetzte Saiph. »Er ist hergelaufen,
um etwas zu essen zu suchen, und so in diesem Tempel gelandet.«
Unschlüssig stand Talitha da und überlegte, was zu tun war. Der zitternde, hungrige Junge tat ihr leid, aber er hatte auch ihre Gesichter gesehen und wusste vielleicht, wer sie waren und würde sie für ein Stück Brot verraten.
Sie legte das Schwert zu Boden und betrachtete ihn. Der Junge hatte etwas, was sie an Saiph in der Zeit erinnerte, als sie sich kennengelernt hatten. Sie schaute in das Schränkchen. Demnach schien der kleine Femtit noch nicht lange da zu sein, denn es war noch nicht leer. Sie nahm einen runden Brotlaib heraus, der steinhart, aber noch genießbar war, und reichte ihn ihm. Der Junge rührte sich nicht und schaute sie nur mit großen Augen an.
»Lauf und vergiss, dass du uns gesehen hast«, forderte sie ihn auf.
Der Junge rührte sich nicht, und so drückte sie ihm das Brot auf die Brust. Mit zitternden Händen griff er es und rannte auf seinen dünnen Beinchen davon.
Saiph durchsuchte das Schränkchen und fand ein wenig getrocknetes Obst und ein Stück Käse. Eine zentimeterdicke Schimmelschicht lag darauf, aber entfernte man sie, war der Rest noch genießbar.
Talitha setzte sich auf den Boden, und Saiph tat es ihr nach.
»Sollen wir hier schlafen?«, fragte er.
Sie blickte sich um und nickte. In diesem verlassenen Nest gab es nichts als Leichen. Wer würde sie hier schon suchen? Und endlich hatten sie mal wieder ein Dach über dem Kopf.
25
K urz nach Sonnenaufgang weckte sie das Licht, das durch die bunten Glasfenster des Tempelchens einfiel. Langsam kam Talitha zu sich und rieb sich die Augen.
Saiph neben ihr schlief noch. Gerührt schaute sie ihn an: Im Schlaf hatte sein Gesicht etwas Sanftes und Kindliches, und er wirkte so unbeschwert, wie er es wahrscheinlich sonst nie im Leben war.
Ohne einen Laut zu machen, stand sie auf und genoss den Frieden an diesem geweihten Ort.
Der Tag versprach wie gewohnt warm und sonnig zu werden. Talitha konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zum letzten Mal Regen gesehen hatte. Sie blickte zum Himmel und schirmte die Augen dabei mit einer Hand ab. Tief standen Miraval und Cetus hinter den Ästen des Talareths, aber der Baum war so kahl, dass die Sonnenstrahlen dennoch ungehindert, rein und stark, durch das Geäst drangen und auf der Haut brannten. Dass es am Morgen schon so warm war, kam ihr plötzlich völlig unnatürlich vor.
Vielleicht täusche ich mich auch , sagte sie sich, aber wir müssen den Ketzer so schnell wie möglich finden.
Sie ging zum Bachbett hinunter. Bei hellem Tageslicht kam ihr das Rinnsal zwischen den trockenen Erdschollen noch mickriger vor. Ein gescheckter Frosch am Ufer quakte sein trauriges Lied. Es wäre doch eine gute Idee, dachte sie, ihn zum Frühstück zu fangen. Leider war unter den Zaubern,
die sie im Kloster gelernt hatte, keiner, der ihr dabei hätte nützen können.
So zückte sie in einer einzigen fließenden Bewegung das Schwert, trat leise noch näher ans Ufer heran, kniete nieder und besah das Tier genauer. Einen Moment lang ließ sie sich von diesem Quaken einnehmen, das sich hypnotisierend in regelmäßigen Abständen wiederholte. Und noch ehe sie sich einen Plan ausdenken konnte, wie sie den Frosch fangen könnte, war er plötzlich mit einem Satz verschwunden.
Nicht schlimm ,
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