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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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Vater dir auferlegt hat. Du hast dich immer mit allem abfinden müssen. Dir blieb gar nichts anderes übrig. Du warst bereits vorher eine Gefangene.«
    »Das Maß ist aber voll. Das ist mehr, als ich ertragen kann.«
    »Das sagst du nur, weil es dir nicht gelingt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Überleg doch mal: Dein Vater hat klar gesagt, dass du eine Führungsaufgabe wahrnehmen sollst. Innerhalb von wenigen Jahren wirst du zur Leiterin des Klosters aufsteigen, und dann kannst du tun und lassen, was du willst. Und außerdem kannst du auch dort weiter trainieren. Schließlich gibt es da die Kombattantinnen.«

    »Trotzdem. Ich muss dort in der Einsamkeit leben, an der Spitze einer Schar von Frauen, die genauso unfrei sind wie ich. Und was die Kombattantinnen angeht ... Wie Schatten zu leben, nie offen das Gesicht zeigen zu können und ein dummes Kloster zu verteidigen, das ist auch nicht das, wonach es mich drängt.«
    »Aber ich bin sicher, dort oben in der Krone des Talareths wird der Blick fantastisch sein.«
    Talitha schloss die Augen und hatte wieder das so fest eingeprägte Bild vor sich, wie ihre Schwester neun Jahre zuvor die endlose, sich um den Talareth-Stamm windende Treppe hinaufstieg, Stufe für Stufe, immer höher, bis sie ganz verschwunden war. Und sie stellte sich vor, wie sie selbst diesen Weg nehmen und irgendwann ganz zwischen dem Astwerk verschwinden würde.
    »Ich werde allein sein«, sagte sie leise. »Dort oben bin ich wirklich ganz allein.«
    Saiph ließ einen Moment lang den Blick auf ihr ruhen.
    »Du wirst nicht allein sein«, sagte er dann. »Ich komme mit.«

7
    F ür ihren letzten Abend hatte sich Talitha vorgenommen, noch einmal die Unterkünfte der Sklaven im Kellergewölbe des Palastes aufzusuchen. Sie wartete, bis alle schliefen, zog dann ihre Kadettenkleidung über und schlich auf Zehenspitzen die Treppen hinunter, fast lautlos, wie sie es sich in den Jahren bei ihren nächtlichen Ausflügen dorthin angewöhnt hatte. Den Sklaven konnte sie vertrauen, sodass von ihren Besuchen nie etwas nach außen drang.
    Auch heute mischte sich die junge Gräfin wieder so selbstverständlich unter die Sklaven, als wäre sie eine von ihnen. Irgendwann holte einer der Sklaven ein Instrument hervor und begann, die Saiten anzuschlagen, und schon stimmte ein anderer eine Ballade an. Sie sangen und erzählten Geschichten vom Verbotenen Wald und von jenen früheren Reichen, in denen es noch kein Sklaventum gegeben hatte. Und natürlich von Beata, der sagenhaften Wüstenstadt, die sich im Schatten eines gigantischen, segensreichen Talareths erhob, dem letzten Ort auf Nashira, wo die Femtiten noch frei gelebt hatten. In Beata waren alle Menschen gleich, niemand war Herr und niemand Sklave, an den Bäumen wuchsen Früchte so groß wie Kinderköpfe, und es war nicht nötig, den Boden zu bestellen oder überhaupt zu arbeiten. In Beata empfanden die Femtiten noch körperlichen Schmerz und verstanden sich auf die magischen Künste, so wie in jenen Zeiten, bevor die Talariten sie versklavten. So zumindest
wurde es erzählt, denn niemand wusste es genau, niemand erinnerte sich aus eigener Anschauung an dieses so lange zurückliegende Zeitalter. Jedenfalls sollte aus Beata, so glaubten die Femtiten, eines Tages der Letzte kommen, der sie befreien und in den Verbotenen Wald zurückführen würde, aus dem sie stammten.
    Hingerissen lauschte Talitha der Stimme des Sängers. Die Geschichten von der Stadt Beata hörte sie am liebsten, und im Gesang der Femtiten war die gleiche Sehnsucht nach Freiheit spürbar, die sie auch schon in Erzählungen ihrer Schwester wahrgenommen hatte. Es war ein tröstlicher Gedanke, dass es auf Nashira zumindest einen Ort geben sollte, in dem das Leben kein schnurgerader, von unübersteigbaren Dämmen gesäumter Weg war, sondern eine grenzenlose Wiese, auf der man ohne Hindernisse umherlaufen konnte, sodass einem angesichts der unzähligen Möglichkeiten fast schwindlig wurde.
    Talitha sang, lachte und trank. Purpur-Saft, den die Femtiten heimlich herstellten, indem sie die Schalen der Früchte sammelten und auspressten, die die Talariten und ihre Familie wegwarfen.
    Die Musik, die Hitze, die verbrauchte Luft, all das begann dem Mädchen zu Kopf zu steigen. Sie fühlte sich richtig berauscht, schwerelos, so als habe ihr Körper eine Last abgeworfen. Langsam drehte sich die Welt um sie herum, und es kam ihr so vor, als seien ihre Bewegungen unnatürlich fließend

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