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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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nicht vergessen und ihm die begabteste seiner weiblichen Kadetten immer ein wenig fehlen würde.
    Zwischen den beiden anderen Priesterinnen schritt die Kleine Mutter auf den Stamm des Talareths zu. Das Mädchen folgte ihnen. Als sie den Fuß auf die erste Stufe setzte, hatte sie das seltsame Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen, als sei sie durch einen Zauber in den Körper ihrer Schwester versetzt worden. Vielleicht ein Dutzend Stufen stieg sie hinauf und drehte sich dann um. Sie sah, dass ihr Vater erstarrte und sein Gesicht blass wurde: Den Novizinnen war es verboten, sich beim Ersten Aufstieg umzuschauen. Denn auch dies hatte eine symbolische Bedeutung und stand für die unwiderrufliche Entscheidung, alles hinter sich zu lassen und das Leben ganz den Göttern zu weihen. Doch Talitha hatte sich nicht umgedreht, um mit einer Tradition zu brechen, sondern um sich zu vergewissern, dass sich
der Graf an ihre Abmachung hielt. Tatsächlich, da stand er auf der ersten Stufe, zehn Schritte hinter ihr, wie es vorgeschrieben war: Saiph. Er trug bereits das Gewand der Tempelsklaven, dunkelrot mit dem heiligen Zeichen der Göttin Alya auf der Brust, einer blutroten Blüte, die auf dem goldgelben Hintergrund eines Ackers spross.
    Schweigend stiegen sie weiter hinauf und beachteten dabei peinlich genau die Abstände, die die unterschiedlichen Ränge ihnen vorschrieben: die Kleine Mutter an der Spitze, die Priesterinnen zwei Stufen dahinter, noch weitere vier Stufen Talitha, und schließlich Saiph.
    Es dauerte nicht lange, bis das Mädchen außer Atem kam, während sich ihre Füße immer mal wieder in ihrem Gewand verhedderten.
    »Es gibt einen Lastenaufzug bis zur Spitze hinauf, aber der Erste Aufstieg muss zu Fuß erfolgen«, hatte die Kleine Mutter ihr im Palast erklärt, als sie die junge Gräfin auf die Zeremonie vorbereitete.
    Mittlerweile lag die Stadt Messe schon weit unter ihnen und sah nur noch wie ein schillerndes Mosaik kunterbunter Dächer aus. Während sie weiter hinaufstieg, blickte Talitha auf das Geflecht der Straßen hinab, das Muster, das die sich aneinanderreihenden Häuser bildeten. Darunter waren Viertel, die sie noch nie gesehen hatte, ganze Teile der Stadt, die ihr völlig unbekannt waren. Doch sie sah auch das schneeweiße, unverwechselbare Dach ihres Zuhauses. Wenn sie ganz genau hinsah, konnte sie sogar den kleinen Balkon vor ihrem Zimmer ausmachen. Vor allem aber erkannte sie den Gardepalast. Das schlichte Gebäude mit dem fünfeckigen Dach und den dicken, von Bastionen unterbrochenen Mauern hob sich deutlich von den anderen ab. Ihr Blick blieb an diesem
Bauwerk haften, das kleiner und kleiner wurde und sich langsam im Straßengewirr verlor. Als Priesterin würde sie später einmal durchaus den Palast ihres Vaters besuchen können, würde in ihrem angestammten Zimmer schlafen und wahrscheinlich auch Gelegenheit haben, das ein oder andere ihr noch unbekannte Viertel ihrer Geburtsstadt zu besuchen. Nur die Garde war ihr nun für immer verschlossen.
    »Achte auf deine Schritte«, forderte die Kleine Mutter sie auf, weil sie ein wenig zurückgeblieben war. Mittlerweile befanden sie sich im Astwerk des Talareths, und ein feines Netz aus Zweigen und Blättern verdeckte mehr und mehr den Blick auf Messe. Das Dach des Gardepalasts hatte sich zwischen dem Laub verloren, und Talitha blickte nur noch auf die Stufen über ihr. Es war das Ende.
    Oder vielleicht nur der Anfang.

ZWEITER TEIL

    AUS: BLÄTTER UND WURZELN. ZUR BOTANIK DES TALARETHS.
NEUNTES KAPITEL.
VON SCHWESTER RAMIA ALIS DEM KLOSTER MANTELA
     
    Unzählig sind die Eigenschaften der Talareths. Sie produzieren die Luft, die wir atmen, und sie sind so vielgestaltig, dass einige Arten, mit geeigneten Züchtungen und Anbaumethoden, eine Höhe von eintausendzweihundert Ellen erreichen können. Ihr Holz, wenn es nicht von der Pflanze getrennt wird, ist außerordentlich widerstandsfähig gegen Blitzschlag und Feuer. So ist jeder Talareth ein Segen für die Stadt, die er unter sich aufnimmt.

9
    S tufe für Stufe stieg Talitha weiter hinauf, das Gewand ein wenig gerafft, um die Füße besser setzen zu können. Doch sie war erschöpft. Vielleicht fiel es ihr leichter, wenn sie sich am Handlauf festhielt. Sie versuchte es.
    »Loslassen! Das ist dir nicht erlaubt«, krächzte augenblicklich die Kleine Mutter los.
    Die junge Gräfin fragte sich, wie die Frau sie überhaupt sehen konnte, da sie ihr doch den Rücken zukehrte und mit raschen, unermüdlichen

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