Nashira
will ich dir mal ein Geheimnis anvertrauen.« Talitha setzte sich auf. »Du musst auch meine Kadettenkleidung einpacken. Und meinen Dolch.«
»Wieso? Hast du vor, deine Mitschwestern zu erstechen?«, fragte Saiph, doch das Lachen erstarb ihm in der Kehle, als er den entschlossenen Gesichtsausdruck seiner Herrin sah. »Das ist doch nicht dein Ernst?«
»Doch. Nimm meine Kleider und meinen Dolch für mich mit.«
»Aber Herrin. Hast du denn wirklich keine Ahnung, wie gefährlich das ist, was du da von mir verlangst?«
»Frag nicht und tue es einfach.«
»Aber wozu denn? Was willst du denn dort oben damit anfangen?« Saiph klang immer besorgter.
Talitha seufzte und schien sich einen Moment zu sammeln, bevor sie antwortete: »Fliehen.«
8
I m Morgengrauen erschienen zwei Priesterinnen im Palast, in ihrer Mitte, genau wie vor einigen Jahren bei Lebitha, die Kleine Mutter.
Der Initiationsritus fand hinter geschlossenen Türen statt. Die Priesterinnen entkleideten Talitha und legten ihr das gelbe Novizinnengewand an. Das Mädchen ließ alles über sich ergehen.
Die Kleine Mutter persönlich band ihr das Haar zu einem festen Knoten, eine Frisur, die sie von nun an bis zur Ordination tragen sollte. Es war ein seltsames Gefühl, wie sich die knochigen, knotigen Finger der Alten in ihren feuerroten Locken zu schaffen machten. Ihre Bewegungen waren ruppig, und ein paar Mal zog sie so fest, dass Talitha am liebsten aufgeschrien hätte.
Als sie endlich fertig waren, warf das Mädchen einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Weich fiel ihr das Gewand über die Hüften und ließ sie wie eine Jungfrau vor dem Opfergang wirken. Und so gebändigt hatte sie ihr Haar das ganze Leben noch nicht gesehen. Mit einem Mal schien sie um einige Jahre gealtert, doch ihre harten Gesichtszüge und der Blick, in dem ein kaum unterdrückter Zorn loderte, wollten nicht zu diesem Bild der Reinheit und Keuschheit passen.
»Wir haben uns versammelt, um die Resonanz der künftigen Novizin festzustellen«, begann die Kleine Mutter mit den rituellen Worten. »Dies ist der Luftkristall, der einst die
außerordentliche Begabung der von uns gegangenen Schwester Lebitha bezeugte.«
Sie öffnete einen Schrein aus blauem Metall, der mit kunstvollen Intarsien verziert war, und zeigte den Anwesenden, was er enthielt: ein Stück Luftkristall auf einem samtenen Tuch.
»Nimm diesen Stein, Talitha aus Messe, und halte ihn fest in der Hand.«
Das Mädchen gehorchte, während ihr Vater mit erwartungsvollem Blick zusah. Ihre Finger fuhren über die glatte, abgeschliffene Oberfläche, dann schloss sie die Augen sowie die Hand fest um den Stein, genauso wie damals, an einem schon lange zurückliegenden Tag, als sie noch ein Kind gewesen war und die Tragweite dieser Handlung nicht hatte begreifen können. »Drücke ihn fest und konzentriere alle Sinne darauf«, hatte die Priesterin zu ihr gesagt. Nur hatte an jenem Tag auch ihre Schwester neben ihr gestanden, während sie heute allein war. Sie erinnerte sich, dass damals der Luftkristall in Lebithas Händen, anders als bei ihr, in einem grellen Licht erstrahlt war. Es war ein Zeichen für ihre ungeheuer starke Resonanz und magische Begabung, die an jenem Tag entdeckt worden war. Die unterschiedliche Reaktion des Kristalls in ihren Händen hatte über ihrer beider Schicksal entschieden.
Und heute sah das Ergebnis nicht anders als beim ersten Mal aus. Talitha öffnete die Hand und zeigte den Kristall. Er schimmerte in einem schwachen Licht, das die graue Oberfläche nur mit matt-blauen Reflexen erhellte.
Auf dem Gesicht ihres Vaters nahm sie den Anflug von Enttäuschung wahr. Es war nur ein Augenblick, dann hatte er sich gefangen und zeigte wieder seine gewohnt undurchdringliche, harte Miene, aber diesen Moment genoss Talitha.
Gleichzeitig wusste sie, dass dies nichts ändern würde. Es war alles genau festgelegt. Sie gab der Kleinen Mutter den Kristall zurück und schickte sich an, für den zweiten Teil der Zeremonie den Palast zu verlassen.
Am feierlichen Ritus des Ersten Aufstiegs nahm auch heute wieder, wie schon damals bei ihrer Schwester, eine vielköpfige Menge teil.
Unter den Zuschauern erkannte die junge Gräfin auch die bekannten Gesichter ihrer früheren Kameraden aus der Garde. In ihrer Mitte Roye, der Lehrer, der sie im Schwertkampf ausgebildet hatte. Sein Blick gab nichts preis, doch im Grunde ihres Herzens spürte Talitha, dass er verstand, was in ihr vorging, und sie hoffte, dass er sie
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