Nashira
Bücher.
An den zwei langen Tischreihen unterhalb des Podiums saßen, streng getrennt, die übrigen Priesterinnen sowie die Novizinnen. Schwester Dorothea brachte Talitha zum zweiten Tisch und nahmen dann selbst auf dem Podium Platz.
Kaum hatte das Mädchen sich gesetzt, erhob sich das Geflüster. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, einige neugierig, andere feindselig, der Großteil eher gleichgültig. Sie selbst sah mit erhobenen Haupt verächtlich auf die versammelte Tischgesellschaft.
Im hintersten Teil des Saales entdeckte sie Saiph, der ihren Blick mit einem angedeuteten Lächeln erwiderte. Als die Kleine Mutter aufstand, verstummte augenblicklich der ganze Saal.
»Am Ende des Tages wollen wir Alya für ihre reichen Gaben danken«, sprach sie.
Der Reihe nach erhoben sich die Priesterinnen neben ihr.
»Wir danken dir für diesen Tag, der mit innigen Gebeten erfüllt war«, sprach die Oberste Erzieherin.
»Friede und Wohlstand komme auf uns herab«, antworteten alle Anwesenden im Chor.
»Wir danken dir für diesen Tag, der mit ertragreichem Lernen erfüllt war«, betete die Oberste Heilerin.
Und so sprachen alle Priesterinnen ihre eigenen Gebete, trugen sie mit den gleichen lauten Stimmen vor, denen in Talithas Ohren allerdings jeglicher Schwung zu fehlen schien. Eigentlich waren sie ganz ähnlich wie die Zeremonien, denen sie zu Hause im Palast hatte beiwohnen müssen: lange Litaneien, in denen weder ein echter Glaube noch eine ehrliche Hingabe zu spüren war. Die Formeln waren so oft wiederholt worden, dass sie alle Bedeutung verloren hatten.
Nur die Kombattantinnen blieben stumm. Sechs von ihnen waren im Saal zugegen: Vier hatten die Ecken des Refektoriums besetzt, und zwei standen wie Schatten hinter der Kleinen Mutter. Diese Kämpferinnen hatten ein Schweigegelübde abgelegt und durften nur reden, wenn sie direkt von der Kleinen Mutter angesprochen wurden.
Zum Schluss ergriff diese wieder das Wort: »Wir danken dir, du Große Göttin, für unsere neue Mitschwester.« Wieder wandten sich alle Blicke Talitha zu. »Wir bitten dich, stärke ihren Glauben und hilf ihr, ihre Talente nutzbringend zu entwickeln.« Sie hielt einen Moment inne. »Wir danken dir auch für diese Speisen: Selbst in solch finsteren Zeiten, da Not und Gewalt herrschen, lässt du nicht ab, für deine Dienerinnen
zu sorgen, deren Hunger du auch heute wieder stillst. Dir sei Lob und Preis in Ewigkeit.«
»Friede und Wohlstand komme auf uns herab«, antworteten die Versammelten wieder, und endlich nahmen alle Platz.
Die Sklaven traten vor und begannen, das Essen aufzutragen. Für jede Novizin gab es einen Teller mit Fleisch, das in einer deftigen Soße schwamm, dazu Wildkräuter und gekochtes Getreide. Alle wurden sie bedient, außer Talitha und etwa zehn weitere Mädchen. Und während sie sich noch fragte, ob sie vielleicht dank ihrer noblen Herkunft ein besseres Essen bekam, hörte sie plötzlich, wie Schwester Dorothea ihren Namen rief, sowie den der anderen leer ausgegangenen Mädchen. Sie mussten aufstehen und vor den Kniebänken Aufstellung nehmen. Talitha blickte zu den anderen Aufgerufenen hinüber. Ihre Mienen waren zerknirscht, und eine schien nur mühsam die Tränen zurückhalten zu können.
»Auch heute«, begann Schwester Dorothea mit lauter Stimme, sodass auch noch die Letzte im Saal sie gut hörte, »haben einige von euch ihre Aufgaben als gehorsame Novizinnen vernachlässigt. Lere, du bist zu spät zum Morgengebet erschienen.« Das erste Mädchen in der Reihe kniete nieder. »Daneba, du hast einen Gesang nicht auswendig gekonnt.« Das zweite Mädchen fiel schluchzend auf die Knie.
So fuhr die Erzieherin fort, die Verfehlungen einer jeden genau zu benennen. Talithas Herz schlug immer schneller.
»Zum Schluss nun zu unserem Neuling, Talitha aus Messe«, sprach Schwester Dorothea und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Obwohl du neu bist und dir daher noch nicht alle Regeln des Klosters im Einzelnen vertraut sind, musst du wissen: Wer bei uns einen Fehler macht, wird bestraft.
Immer. Ein Fehler belastet die ganze Gemeinschaft und beleidigt die Göttin. Und du, Talitha, hast dir eine Reihe von Verfehlungen zuschulden kommen lassen: Du bist beim Ersten Aufstieg nach wenigen Stufen stehen geblieben und hast dich umgeschaut; du hast dich am Handlauf festgehalten, obwohl du wusstest, dass dies nicht erlaubt ist. Und du hast mich, obwohl ich dich darauf hingewiesen hatte, dass es sich dabei um ein ungebührliches
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