Nashira
eine vage Erinnerung auf. Und mit stockender Stimme begann sie: »Wir danken dir, Alya, jeden Tag, vom Aufgang Miravals bis zum Untergang. Dank sei dir für alles, was du uns schenkst, und Dank auch für alles, was du uns nimmst.«
In einer Reihe wurde gekichert, doch sofort sorgte Schwester Dorothea für Ruhe. »Das ist alles?«, fragte sie. »Ein Kindergebet?«
Talitha antwortete nicht und stand nur reglos da, während ihr das Blut in die Wangen strömte. Auch wenn sie plante, besser heute als morgen aus dem Kloster zu verschwinden, tat es doch weh, vor den anderen so bloßgestellt zu werden.
»Für morgen gebe ich dir auf, die ersten hundert Gesänge auswendig zu lernen. Und nun setz dich«, sagte die Erzieherin.
Nach einer nicht enden wollenden Unterrichtsstunde entließ Schwester Dorothea die Klasse. Bis auf Talitha, die sie noch einmal zur Seite nahm. »Du hast enorme Wissenslücken, ich hoffe, du bist dir dessen bewusst.«
Das Mädchen nickte.
»Deine Mitschwestern sind schon sehr viel weiter als du, und es liegt auf der Hand, dass du im Moment noch nicht einmal verstehst, worüber wir im Unterricht reden. Deswegen halte ich es für angebracht, dass ich dich persönlich unterrichte. Wir beginnen heute Abend, nach dem Essen.«
»Aber ich muss doch die ersten hundert Gesänge für Euch auswendig lernen«, wandte sie ein.
»Das wirst du eben heute Nacht erledigen.«
Talitha krallte sich die Fingernägel in die Handflächen. Offenbar wollte man sie mit dem Lernpensum umbringen, unter Büchern begraben.
Nein, du bist eine Kadettin, die werden dich nicht kleinkriegen. Niemals, machte sie sich selbst Mut. Der Gedanke tröstete sie ein wenig, während sie den anderen nacheilte, die zur nächsten Stunde in einen anderen Klassenraum geströmt waren.
Dieser sah ganz ähnlich wie der erste aus, auch hier ließ eine ganze Glaswand Licht herein, nur waren auf der gegenüberliegenden Seite hohe Regale aus massivem Holz aufgestellt, die bis zur Decke mit Büchern gefüllt waren. Im Raum dazwischen standen zehn Schreibtische, die mindestens je sechs Ellen lang und in der Mitte des Saals in zwei Reihen angeordnet waren. Ganz hinten, etwas erhöht, saß eine alte Priesterin.
»Das ist Schwester Fonia. Geh zu ihr, sie kennt deinen Studienplan«, flüsterte Kora ihr zu.
Schwester Fonia war eine beleibte Frau mit strohigen, vom Alter mittlerweile völlig eingeschwärzten Haaren und einem Gesicht, das ein einziges Netz aus Falten war. Trotz der dicken Brille kniff sie die Augen zusammen, während sie den Kopf tief über ein dickes Buch beugte. Sie schien Talitha, die zu ihr getreten war, nicht zu bemerken.
»Schwester Fonia?«, sprach Talitha sie leise an.
Die Alte hob den Blick. Ihre Augenfarbe wirkte verwaschen, wie bei einem Tuch, das zu lange benutzt worden war. Offenbar erkannte sie das Mädchen nicht und rückte sich die Brille auf der Nase zurecht.
»Ich bin Talitha aus Messe.«
Die alte Priesterin blickte sie weiter ratlos an, bis ihr endlich eine Eingebung zu kommen schien. »Ach, natürlich ...«, seufzte sie, »die Neue. Warte.«
Die Hände auf das Pult gestützt, stemmte sie sich mühsam
hoch, bewegte sich dann mit langsamen Schritten, wie von einer unsichtbaren ungeheuren Last gebeugt, auf eine kleine Tür zu und verschwand dahinter. Talitha wartete neben dem Schreibpult und fragte sich, wie alt die Priesterin wohl sein mochte. Sie kam ihr wie eine uralte Greisin vor. Erst nach einer ganzen Weile tauchte Schwester Fonia wieder auf, mit vier dicken Wälzern auf dem Arm, die sie in die Knie zu zwingen drohten. Eine Staubwolke stieg auf, als sie die Bücher auf das Pult wuchtete. Sie hustete und blickte dann wieder das Mädchen über den Brillenrand hinweg an.
»Dein Vater hat uns über den Stand deiner Vorbereitungen unterrichtet. Einige der Fächer, die du bei den Hauslehrern im Palast gelernt hast, nützen dir hier wenig. Andere hingegen solltest du rasch weiter vertiefen: Hier haben wir ein Werk über die Grundzüge unserer Geschichte, dann ein botanisches Lehrwerk zu den Eigenschaften der Talareths, eine Untersuchung zu den Merkmalen und Wirkungsweisen des Luftkristalls sowie eine Sammlung der wichtigsten Gesänge. Letzteres kannst du dir auf dein Zimmer mitnehmen. Schwester Dorothea erlaubt es dir. Die anderen wirst du hier durcharbeiten.«
Sie bückte sich schwerfällig und suchte etwas unter dem Pult. Schließlich fand sie es und warf einige Blätter Papier, die von einem violetten Band
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