Nashira
der Rückseite waren ein paar Anmerkungen geschrieben. Talitha las sie:
Himmlische Annalen, zwanz. Jahrh., dritte Folge.
Aufzeichnungen der Ketzerpriesterin Juno, vierter Monat
Verhör des Mannes vom Namenlosen Ort
Talitha betrachtete den Schlüssel, dessen Form keinerlei Aufschluss darüber gab, was vielleicht damit zu öffnen wäre. Sie blickte sich um, entdeckte aber nirgendwo ein Schloss. Die Schreibtischschubladen standen offen, und die Truhe war mit einem Riegel verschlossen. Vielleicht war hinter den Büchern irgendein Schloss verborgen? Nein, das war nicht sehr wahrscheinlich: Was hätte es für einen Sinn, einen Schlüssel gleich neben dem Fach zu deponieren, das damit aufzusperren war. Aber vor allem musste sie sich fragen: Warum hatte Lebitha ihr diese Zeichnung und diesen Schlüssel zukommen lassen, und das auf diese komplizierte Weise?
Eilig steckte sie beides unter ihr Gewand, dort wo der Stoff ihre Brüste umschloss.
»Talitha, beeil dich, wir haben gleich Unterricht.«
»Ich komme schon.«
So schnell sie konnte, stellte sie alle Bücher wieder an ihren Platz, schloss die Schreibtischschubladen und glättete flüchtig das Bett.
Mit bemüht gleichgültiger Miene verließ sie den Raum, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.
»Alles in Ordnung?«, fragte Schwester Pelei, »du warst ja lange dort drinnen. Aber es war sicher auch schwer für dich. Fühlst du dich überhaupt bereit für den Unterricht?«
»Ja, es geht schon«, antwortete das Mädchen, »aber es ist mir wirklich sehr nahegegangen.«
Während sie gemeinsam zum Magie-Klassenraum gingen, spürte Talitha das kalte Metall des Schlüssels wie einen schmerzenden Dorn am Busen: Sie hatte erst einen kleinen Teil der Botschaft ihrer Schwester entziffert, aber schon ahnte sie, dass ihr die Dinge, die sie noch herausfinden würde, nicht gefallen würden.
16
S aiph war völlig am Ende. Gerade hatte er wieder stundenlang in der Wäscherei geschuftet und war nur knapp der nächsten Bestrafung mit dem Stock entgangen. Außerdem hatte es bei ihrer einzigen Mahlzeit am Tag nur eine wässrige Suppe gegeben. Daher knurrte ihm in einem fort der Magen, und er fühlte sich so schwach wie nie zuvor.
Wenn das so weitergeht, falle ich bald tot um, sagte er sich und dachte daran, dass seine Herrin wahrscheinlich Recht hatte: Sie mussten fliehen, es gab keinen anderen Weg. Dennoch hoffte er, dass dieser Tag, an dem sie ihn zur Flucht auffordern würde, niemals kommen werde. Denn er machte sich keine Illusionen darüber, wie so etwas enden würde, und auch wenn ihn der Gedanke, ihr zu gehorchen und dafür mit dem Leben zu bezahlen, nicht schreckte, war ihm doch die Vorstellung, wie Talitha bestraft oder vielleicht sogar getötet würde, völlig unerträglich. Da war es doch tausendmal besser, sie hier gefangen, aber immerhin lebendig zu sehen.
Er dachte an die Dinge, die das Mädchen ihm bei ihrem letzten Treffen gezeigt, und das Versprechen, das er ihr dabei gegeben hatte: Er würde ihr helfen herauszufinden, was diese Zeichnung bedeutete und zu welchem Schloss dieser Schlüssel passte. Das war er ihr, vor allem aber Lebitha, schuldig.
So schaute er sich während seiner täglichen Arbeiten aufmerksam im Kloster um, doch dieser Tage hatte er nichts entdecken
können, was sie irgendwie weitergebracht hätte. Wenn es tatsächlich einen Ort gab, zu dem diese Hinweise führen sollten, war er mit Sicherheit sehr gut versteckt. Vorsichtig, bemüht, keinen Verdacht zu erregen, hatte er sich bei anderen Sklaven umgehört, ob sie vielleicht etwas von einem Klosterbereich, den niemand betreten durfte, wüssten, und dabei als Vorwand etwas von einer Legende erzählt, die er irgendwo mal gehört habe. Doch niemand konnte ihm weiterhelfen.
In diese Gedanken vertieft, warf er sich auf sein Lager, seine Glieder erschlafften bald schon vor Müdigkeit, und er war schon fast eingeschlafen, als er Beris neben sich hörte.
»Saiph?«, flüsterte sie, »bist du noch wach?«
»Hoffentlich nicht mehr lange«, zischte er, »was ist?«
»Du musst aufhören, durch die Gegend zu laufen und die Leute auszufragen.«
Er drehte sich um und sah sie fragend an, doch Beris schwieg und biss sich nur nervös auf die Unterlippe.
»Jetzt pack schon aus«, forderte er sie auf, mit einem Lächeln, das sie nicht erwiderte.
»Ich habe erfahren, dass es im Kloster einen verbotenen Ort gibt«, begann sie endlich.
Saiph horchte auf.
»Ja, und wo soll der sein?«, fragte er, gähnend,
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