Nashira
gelang, Seite für Seite ein exakt gleiches Bild zu zeichnen, und auch nicht an der Farbgestaltung. Talitha verglich noch einmal alle Angaben unter den Bildern, und plötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie ging noch einmal zurück zur ersten Zeichnung. Nun erkannte sie den Unterschied: Seite für Seite wurde der kleine weiße Himmelskörper heller, während der dünne Faden, der Miraval und Cetus verband, dicker wurde. Die Anmerkungen darunter bestätigten ihre Beobachtung. Cetus hatte in den vergangenen zehn Jahren seine Leuchtkraft kontinuierlich gesteigert.
Talitha fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie erinnerte sich daran, was man sie von klein auf gelehrt hatte: Mira, die gütige Spenderin von Licht und Leben, hatte Miraval, ein Abbild ihrer selbst, erschaffen, um den niederträchtigen Cetus zu bändigen, der gezwungen war, ihr bis in alle Ewigkeit am Himmel zu folgen. Strahlend hell erschien Miraval am Himmel, weil er von Miras Energie gespeist wurde, während Cetus kleiner und blasser erschien. So war es schon immer, seit dem Tag, da der eine den anderen besiegt hatte, und so würde es immer sein, bis zum Ende aller Zeiten, wenn Miraval Cetus endgültig vernichten und in sich aufnehmen würde. Cetus stand für das Böse, er durfte nicht größer und heller werden.
»Saiph, du solltest mal herkommen und dir das ansehen.«
»Nein, du solltest lieber mal das hier lesen«, antwortete er, wobei er ihr das kleine Buch reichte.
Es war in einer ordentlichen, wenn auch ein klein wenig zittrigen Handschrift geschrieben. Über den verschiedenen Eintragungen stand immer ein Datum. Ein Tagebuch also. Talitha las:
Zwanzigstes Jahrhundert, Viertes Jahr, Sechster Monat.
Heute gab es erneut Streit mit der Kleinen Mutter. Sie will mir nicht zuhören. Dabei habe ich ihr die Beweise vorgelegt, die ich mit nimmermüden Forschungen erarbeitet habe ... Ganz eindringlich habe ich ihr erklärt, dass die Not Talarias auf die gesteigerte Leuchtkraft von Cetus zurückzuführen ist. Ich habe ihr erzählt, dass ich die alten Himmlischen Annalen studiert und sie mit den Politischen Annalen verglichen habe. Es gibt
nicht den Hauch eines Zweifels: Ein Zusammenhang zwischen dem Erstarken von Cetus und der Trockenheit hier unten steht fest. Je stärker seine Strahlung, desto verheerender die Trockenheit. Ich habe ihr meine Messungen vorgelegt. Da ist sie aufgesprungen und hat mich angeschrien, ich solle endlich mit diesen Gotteslästerungen aufhören, und würde ich meine Forschungen nicht einstellen, müsse sie mich bestrafen, und das sehr streng.
Dabei verstehe ich ihre Bestürzung, denn auch mein Glaube ist ins Wanken geraten. Doch Mira hat uns mit Vernunft und Verstand gesegnet, damit wir die Welt erforschen. Daher sehe ich nicht, dass ich mich versündigt hätte, gegen sie oder die Götter. Im Gegenteil bin ich überzeugt, dass wir diese Gaben besitzen, um etwas gegen das Erstarken von Cetus zu unternehmen. Ich habe versucht, ihr das deutlich zu machen, aber sie hat mich hinausgeworfen.
Fassungslos hob das Mädchen den Blick.
»Das ist das Tagebuch einer ketzerischen Priesterin. Lies weiter, dann siehst du, wie die Sache ausgeht«, sagte Saiph.
Hektisch blätterte Talitha weiter und blieb bei folgenden Zeilen hängen:
Die Wahrheit wird nicht mit mir sterben. Die Wahrheit stirbt nie. Sie wird meine sterbliche Hülle hinter sich lassen und ihren Weg finden, auch wenn mein Geist schon zu den Göttern unter der Erde eingegangen ist. Auch andere werden entdecken, was ich erkannt habe, andere werden die Wahrheit verbreiten. Die Machtgier hat den Klerus blind gemacht und von Mira entfernt. All das wird uns teuer zu stehen kommen.
Gleich darunter waren mit einer unterschiedlichen Handschrift zwei Zeilen angefügt worden.
Urteil vollstreckt, Viertes Jahr, Siebter Monat, Scheiterhaufen.
»Sie haben sie getötet ...«, murmelte Talitha.
»Und nicht nur sie. Viele andere auch«, setzte Saiph hinzu. »In den Verzeichnissen sind jede Menge Tagebücher mit der Bemerkung ›ketzerisch‹ aufgeführt. Ich wette, wenn wir die durchblättern, lesen wir überall von ähnlichen Dingen.«
Talitha sah ihn an, ihre Augen glänzten von Feuchtigkeit.
»Sie hat es gewusst«, sagte sie mit zitternder Stimme, »meine Schwester hat es gewusst...«
Saiph neben ihr schwieg. Was hätte er darauf antworten sollen?
»Ihr war es vorherbestimmt, Kleine Mutter zu werden, und als Orantin war es ihr erlaubt, in den Himmel zu schauen.
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