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Nashira

Nashira

Titel: Nashira Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Troisi
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niemand wagte es, sich zu rühren. »Heute Nacht ist etwas Ungeheuerliches geschehen. Aber morgen, wenn Miraval und Cetus aufgehen, werden wir öffentlich zeigen, wie gefährlich es sein kann, gegen die Klosterregeln zu verstoßen. Wir sind gut und gerecht zu allen, die sich an die Regeln halten, aber gnadenlos gegen jeden, der sie zu brechen wagt. Saiph hat die Kühnheit besessen hat, einen heiligen Ort dieses Klosters durch seine Anwesenheit zu schänden, und wird dafür öffentlich mit hundert Stockschlägen bestraft werden.«
    Talitha erstarrte. Bereits mit der Hälfte würde man den stärksten Femtiten ganz Talarias umbringen. Offenbar wollten sie sich irgendeiner mysteriösen Methode bedienen, um Saiphs Todeskampf zu verlängern, einer Marter, die sie sich noch nicht einmal vorstellen konnte.
    »Darüber hinaus«, fuhr Schwester Dorothea fort, »erhalten alle Sklaven zwei Stockschläge und bekommen zwei Tage lang nichts zu essen. Damit, so hoffen wir, wird das Vergehen eines Einzelnen allen eine Lehre sein.« Sie ließ ihren unbeugsamen Blick über die Versammelten schweifen. »Der Sklave wurde lange verhört, und es deutet alles darauf hin, dass es sich bei der Schändung des Ortes um die Wahnsinnstat
dieses Einzelnen handelt. Das freut mich. Denn hätte auch eine Mitschwester eine solche Schuld auf sich geladen, würde ihre Bestrafung nicht gnädiger ausfallen.«
    Ein bestürztes Raunen erhob sich im Saal. »Aber wenn jemand von euch etwas zu beichten hat, bin ich jederzeit bereit, diese reuige Seele auf meinem Zimmer anzuhören. Auf meine Großherzigkeit ist Verlass, und wer aufrichtig bereut, soll dafür seinen Lohn empfangen.«
    Schließlich nahmen sie alle Platz, und schweigend begannen die Novizinnen zu essen. Talitha blickte zu den Sklaven hinüber, die im hinteren Teil des Raumes versammelt waren. Einige zitterten. In ihren Blicken stand Furcht, entsetzliche Furcht, aber auch Trauer und Mutlosigkeit angesichts der brutalen Hinrichtung, der sie anderntags beiwohnen sollten. Talitha konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten: Morgen würde Saiph sterben, auf grausamste Weise, und das nur, weil er sie begleitet hatte, um sie zu beschützen. Der Gedanke brachte sie schier um den Verstand. Sie senkte den Kopf und zwang sich, von dem faden Brei auf ihrem Teller zu essen, doch jeder Bissen, den sie schluckte, lag ihr wie ein Stein im Magen.
    Am Abend kehrte sie so schnell wie möglich auf ihr Zimmer zurück und wartete, dass die Nacht hereinbrach.
    Noch einmal durchdachte sie alles, was sie geplant hatte. Sie musste aufs Ganze gehen, ihr blieb keine andere Wahl.
    Talitha wartete, und als sie sicher war, dass alle im Kloster schliefen, legte sie mit langsamen bedächtigen Bewegungen ihr Gewand ab. Im schwachen Schein einer Leuchtkugel betrachtete sie ihren nackten Körper. Gut sichtbar zeichneten sich die Rippen unter ihren kleinen Brüsten ab, und knöchern standen die Schultern hervor. Sie war wirklich sehr
dünn geworden, und zum ersten Mal in ihrem Leben machte sie sich deswegen Sorgen, denn jetzt brauchte sie all ihre Kraft. Sie spannte die Armmuskeln an und fuhr mit den Fingern über die harte Wölbung. Der Zorn würde ihr zusätzliche Kräfte verleihen, da war sie sich ganz sicher.
    Sie öffnete die Truhe, legte den doppelten Boden frei und holte ihre Kadettenuniform hervor. Mit bedächtigen Bewegungen, so als vollzöge sie eine heilige Handlung, legte sie sich Stück für Stück an. Das Leder knarzte, als es sich ihrem Körper anschmiegte. Seit zwei Monaten hatte sie die Sachen nicht mehr getragen, und das Material schien hart geworden zu sein und sich ihrer Haut entwöhnt zu haben.
    Schließlich zog sie die Riemen der Weste stramm und schlüpfte in die Stiefel. Dann griff sie zum Dolch und nahm ihn fest in eine Hand, während sie gleichzeitig mit der anderen alle Nadeln herauszog, mit denen ihr Haar zusammengesteckt war. Sie ließ es lang auf die Schultern fallen und fasste es dann mit der Hand zum Pferdeschwanz zusammen. Ein sauberer Schnitt reichte, und schon kitzelten die Locken ihre Ohren. Es war ein seltsames Gefühl, neu und berauschend.
    Sie ließ die Haare zu Boden fallen und betrachtete sie dort ohne Reue. Dann steckte sie den Dolch in den rechten Stiefel und öffnete die Tür.
    Im Flur war niemand zu sehen. Rasch und lautlos durchquerte sie ihn auf Zehenspitzen und erreichte den Ausgang, der ins Freie führte. Vor ihr breitete sich die Plattform aus, auf der das Kloster errichtet war.

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