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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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»Für diese Nacht.«
    »Eher nicht«, sagte der Junge zwischen den Zeilen.
    Dann waren sie fort, nur noch auf der Straße zu sehen, verschwommene Umrisse in der Nacht.
    »Ich brauche noch einen Spaziergang«, sagte Svenja schnell. »Ich gehe ein Stück mit.«
    »Wohin?«, fragte Katleen hinter ihr im Flur.
    »Das«, sagte Svenja, »ist nicht die Frage.«
     
    Sie holte Nancy und den Jungen eine Straße weiter ein. Sie musste ihn fragen, ehe die Gelegenheit vorüber war. Und vermutlich spürte er ihre Frage, doch er sagte nichts darüber.
    Sie gingen zu dritt auf das dunkle Maul der Unterführung zu, in der der Zugfütterer erstochen worden war.
    »Ich gehe immer oben lang«, sagte Svenja.
    »Wir nicht«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Wir gehen unten und erinnern uns. Er wird sonst vergessen.«
    Sie tauchten in das Schwarz unter der Straße ein und auf der anderen Seite wieder daraus auf. Nichts geschah. An der Kreuzung hinter der Neckarbrücke tropfte das Regenwasser müde aus der
Bubble-Tea
-Fahne vor dem Dönerladen. In der Altstadt suhlten sich die Schaufensterlichter gleißend im Regenfilm auf dem Pflaster.
    Vor dem Eingang des Netto, an einer windgeschützten Stelle im Auge der kleinen Überwachungskamera, breitete Nancy ihre Pappe auf dem Boden aus. Nicht dumm. Aber warum waren sie zum Haus Nummer drei gekommen, wenn es diese Stelle gab?
    »Gehen wir noch ein Stück?«, fragte Svenja.
    »Sieht so aus«, sagte der Junge zwischen den Zeilen.
    Sie folgte ihm über den Holzmarkt in Richtung des Schlosses. Oben lehnte er sich an die Mauer, genau dort, wo Nashville gefallen war. Svenja holte ein Päckchen Zigaretten hervor, und sie rauchten einen Moment lang schweigend.
    »Frag«, sagte er dann.
    »Warum lebst du so? Zwischen den Zeilen? Bei Nancy kann ich es verstehen …«
    »Ach so?«
    »Nancy ist … einfach gestrickt, oder? Und sie sieht schon aus wie jemand, der überall aneckt.«
    »Ist ihre Geschichte weniger tragisch, weil sie nicht klug ist und nicht hübsch? Alkohol, falscher Mann, Psychose … Momentan geht es ihr ganz gut. Vielleicht, weil sie diesen Angriff überlebt hat. Es hat sie in zwei Sachen bestätigt: Erstens, jemand hat es auf sie abgesehen, es ist keine Einbildung. Und zweitens, sie ist stärker als er.«
    »Psychose«, wiederholte Svenja. »Das ist es. Du hast alle diese Worte. Wer bist du? Wer bist du wirklich? Ist diese ganze Bettelei eine Art Tarnung? Versteckst du dich vor etwas? Und was war mit Sirja, der Löwin? Sie war auch nicht die, die sie war, oder? Deshalb musste sie sterben. Es war keine Handlung im Affekt.« Sie merkte, dass sie fror, und steckte die Hände in die Ärmel.
    »Private eye Svenja Wiedekind«, sagte der Junge zwischen den Zeilen mit einem leisen, verächtlichen Lachen. »Ich werde dir etwas erzählen. Du magst doch Märchen. Es war einmal ein Typ, der war gut in der Schule. Richtig gut, überall. Er hatte sämtliche Chancen. Er hatte eine Freundin, das schönste Mädchen der Schule. Sie wohnten in derselben Straße. Seine Eltern hatten Geld, ihre Eltern hatten Geld, das ganze Leben lag in einer Kiste, die mit Flanell ausgebettet war. Warm und sicher und behaglich. Sie fuhren zusammen Ski, der Junge und seine Freundin, sie fuhren in jedem Winter Ski. Dann kam der Winter, in dem sie in der elften Klasse waren. Der Winter mit dem Busunfall. In den Bergen, in einer engen Kurve. Ihm passierte nichts. Sie starb. Unspektakulär. Und plötzlich fing er an nachzudenken. Darüber, dass es unendlich viele Dinge gab, die sie nie erlebt hatte. All die Extreme: Kälte. Hunger. Verzweiflung. Glück. Ihr Leben war auf einer sanften Wellenlinie verlaufen, mit winzigen, unbedeutenden Aufs und Abs. Es war, genau genommen, überhaupt kein Leben gewesen. Er begriff das, als er sie in ihrem Sarg liegen sah, in dem sie noch immer so schön war wie ein Bild. Sie hatte keine Chance mehr. Er hatte noch eine. Und es kam ihm vor, als würde sie flüstern: Mach das. Geh raus, und erlebe das alles. Lebe. Steig aus der Flanellkiste.« Er verstummte, rauchte still, zuckte die Achseln. »Das habe ich getan.«
    Svenja rieb ihre Oberarme mit den Händen, um warm zu werden. Sie zitterte.
    »Du bist einfach gegangen?«
    Er nickte. »Ich habe die Vordertür aufgemacht und bin gegangen. Ich habe nichts mitgenommen. Es war niemand zu Hause, als ich ging.«
    »Wie lange ist das her?«
    Er überlegte. »Vier Jahre?«
    »Sie … müssen dich doch gesucht haben … sie suchen vielleicht noch

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