Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
immer …«
»Ich war nicht so dumm, in ihrer Stadt zu bleiben. Wie viele Vermisstenanzeigen gibt es, auf Bahnhöfen, an U-Bahn-Stationen? Tausende. Wer nicht gefunden werden will, wird nicht gefunden.«
Svenja schüttelte den Kopf. »Das ist alles … furchtbar traurig.«
»Nein«, sagte er. »Nein, das ist es nicht. Ich lebe. Manchmal sehe ich die hellen Fenster an, hinter denen die Leute sitzen, und stehe im Regen und denke: Die dadrinnen leben nicht. Sie sitzen vor ihren Fernsehern und sind schon tot, und wenn sie eines Tages aufhören zu atmen, werden sie den Unterschied nicht einmal bemerken.«
Er sah sich wieder um, und Svenja dachte an Nancy und ihren Verfolgungswahn.
»Ist jemand hier? Außer uns?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Komm.«
Er führte sie zu der Tür in dem großen hölzernen Tor. Dann holte er einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf.
»Woher …?«
»Mal entliehen und nachmachen lassen. Wenn man lange genug wartet und beobachtet, kann man beinahe jeden Schlüssel nachmachen lassen.« Er zog die Tür hinter ihnen zu.
Der Innenhof des Schlosses war weit und leer.
Sie folgten dem Geräusch ihrer Schritte über den Hof. Auf der anderen Seite führte ein Gang durch das Gebäude hindurch. Dahinter ging es wieder auf Kopfsteinpflaster abwärts. Das Schloss war ein Labyrinth.
»Wohin gehen wir?«
Er half ihr über eine Mauer zur Linken, und als sie sprang, landeten ihre Turnschuhe federnd im nachtfeuchten Gras. Die vergangene Tageswärme hatte sich hier gesammelt und stand lautlos dampfend zwischen alten Obstbäumen.
»Nashville hat mir von eurem Paradiesgarten erzählt«, flüsterte der Junge zwischen den Zeilen. »Das hier ist mein Paradiesgarten. Es gibt eine Menge schöner Dinge zwischen den Zeilen. Die schönen Dinge werden schöner, wenn die schlimmen Dinge schlimmer sind.«
Er führte sie mitten in den Garten hinein, in ein winziges vergessenes Stück Erde, und die weißen Nebelschwaden, die darin wuchsen, ließen die Bäume schweben. Svenja roch den Duft von tausend Kräutern in uralten Beeten.
»Nashville«, flüsterte sie. »Diese Messer, die er sammelt … Wie verrückt ist Nashville? Ich … ich will das nicht denken, aber wenn er es war, der …«
Der Junge zwischen den Zeilen legte ihr eine Hand auf den Mund, ganz sacht. »Wenn du es nicht denken willst, dann sag es auch nicht. Vergiss es. Du magst ihn sehr.«
Sie nahm seine Hand von ihrem Mund. »Wie man ein Kind eben mag.«
»Er ist nicht nur ein Kind«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Er ist ein Mensch.«
Irgendwie waren sie sich zu nahe. Sie roch Friedels Kleider, die er noch immer trug – da war der weiche Duft von Cannabis, der leise Schimmelgeruch des Hauses Nummer drei, ein Rest von Formalin aus dem Präp-Kurs.
»Wie hieß sie?«, wisperte Svenja.
»Das ist unwichtig.«
Und dann fiel sie mit ihm zwischen die Zeilen, hinab ins feuchte Gras.
Sie dachte daran, wie Nashville ihm und dem Zugfütterer die Dose Eintopf geschenkt hatte.
Wie entfernt er gewesen war, nur irgendein Penner. Aber niemand war nur ein Kind oder nur ein Penner, sie waren alle Menschen mit einer Geschichte, er hatte recht.
Ganz kurz dachte sie an Nils. An seinen Verbündetenblick.
Und sie dachte:
Ich schlafe mit zu vielen unterschiedlichen Leuten
.
Aber sie schlief ja gar nicht, sie war wach, sehr wach; ihre Sinne waren schärfer als je zuvor. Die Feuchtigkeit jedes einzelnen Regentropfens im Gras brannte auf ihrer Haut. Sie wollte Fragen stellen. Bin ich in diesem Moment sie? Deine tote Freundin? Aber der Garten war nicht für zu viele Worte gemacht. Sie spürte seine Rippen, es gab nichts Weiches an ihm. Er war so mager wie Nashville.
Sie verbot sich den Vergleich.
Sie zogen sich nicht aus, es war nicht nötig, man konnte auch so unter Hemden greifen und Hosen halb herunterstreifen. Wobei sie es nicht eilig hatten. Dies war nichts Dringendes oder Hektisches oder überhaupt Emotionales. Es war nur etwas, was geschah, weil es geschehen musste, wie die Auflösung eines Dominantseptakkords. Es war schon im Haus Nummer drei klar gewesen, als sie sich angesehen hatten und beide Wölfe gewesen waren.
Und sie war erstaunt, wie gut es war.
Der Junge zwischen den Zeilen schien mehr zu wissen als Friedel oder Katleen, und für Momente wünschte sie sich, sie könnte den Augenblick für immer halten. Hierbleiben, mit diesem Menschen, der zur Abwechslung nicht in sie verliebt
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