Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
in den sensationshungrigen Gesichtern der Leute war so wirklich, dass es sich anfühlte wie eine Ohrfeige.
    Sie befreiten den Körper in dem Moment aus dem Gitter, als Svenja ankam. Sie versuchten noch immer, ihn schonend zu bergen. Das Gitter filterte das herabstürzende Wasser vor dem künstlichen Betonfall, es hatte nichts Gefährliches an sich. Aber jetzt wirkte es seltsam brutal, als hätte es Zähne und Krallen.
    Der Notarzt stand neben seinem Wagen in Reanimationsbereitschaft und sah woandershin. Svenja dachte: Er würde gerne rauchen, aber er darf nicht. Dem Notarzt war von allen am klarsten, dass er hier überflüssig war.
    Der Körper in den Armen des bergenden Schwimmers trug ein Batik-T-Shirt, das Svenja gut kannte. Sie erinnerte sich daran, wie es in einem Brunnen vor dem Unihauptgebäude gelandet war.
    »Friedel«, flüsterte sie. »Wie … wie ist er in den Fluss gekommen?«
    Der Körper lag jetzt an Land, und Svenja ging nicht näher heran. Sie fühlte sich komplett taub.
    »Nein«, sagte Katleen neben ihr. »Schau hin. Schau hin, Svenja.«
    Sie fühlte, wie Katleen sie an der Hand nahm, sie zu der Stelle zerrte, wo der Arzt jetzt neben dem Körper kniete, dessen Haar verfilzt, aber kurz war. Keine Rastalocken.
    Es war nicht Friedel.
    Es war der Junge zwischen den Zeilen.
     
    Der Notarzt reanimierte ihn nicht. Jeder konnte sehen, dass es nicht der Neckar war, der ihn ins Jenseits geschickt hatte: Ein tiefer, glatter Schnitt führte quer über seinen Hals und hatte beide Karotiden säuberlich durchtrennt.
    Svenja wusste noch, wie die Rippen unter seiner Haut sich anfühlten. Der vergessene Garten im Schloss würde das Gefühl für immer konservieren.
    »Aber er
hat gelebt
«, flüsterte sie. »Er hatte alles, alle Extreme, Hunger und Kälte und Wärme und … Glück … für Augenblicke …«
    Sie brach ab, weil sie merkte, dass ihre Stimme völlig ertrunken klang. Katleen legte die Arme um sie, aber sie rutschte unter den Armen hindurch, bis sie auf der schmalen Brücke am Geländer kniete, und es war ihr egal, was die Leute dachten. Wie konnten die Leute überhaupt wagen zu existieren? Zwischen den Zeilen brach Stück für Stück eine Welt zusammen. Und sie war Teil dieser Welt geworden, in einer Nacht zwischen zwei und vier Uhr morgens, zwischen Nebeln und Kräuterbeeten.
    Er hatte gewusst, dass etwas passieren würde.
    Shit. Er ist hier … Pass mir auf Nashville auf.
    Es war ein endgültiger Abschied gewesen, ohne dass sie es begriffen hatte.
    »Svenja!«, sagte die Stimme ihres Vaters.
    »Svenja«, sagte Katleen.
    »Svenja?«, fragte Nashville.
    »Svenja, komm zu dir. Sag was«, bat ihr Vater, sie sah ihn nur verschwommen, sie wusste nicht, wo er war oder wo sie war oder warum. »Sag irgendwas.«
    Was sollte sie denn sagen? Die Worte zwischen den Zeilen sind stumm.
     
    Sie wusste nicht genau, wie sie nach Hause gekommen war. Sie merkte irgendwann, dass sie in der Küche saß und dass eine Tasse Kaffee vor ihr stand.
    Er war ganz nah …
    Ihr Vater legte ihr eine Hand auf den Arm, sprach mit ihr. Sie sah ihn an, verstand aber seine Worte nicht.
    Seine Eltern werden es nicht einmal erfahren …
    Sie stellte die Tasse ab und ging die Treppe hoch. Das Dachzimmer war voller Licht.
    Seine Finger, nicht gewohnt, eine ganze Zigarette zu halten. All diese halb gerauchten Kippen anderer Leute …
    Sie öffnete die Tür des alten Bauernschranks und betrachtete den Kleiderstapel darin. Ganz unten lag das violette Hemd.
    Es wäre nicht passiert, wenn wir ihn überredet hätten, hier zu schlafen.
    Es wäre nicht passiert, wenn ich mit ihm zusammen zurückgegangen wäre, in den Sicherheitsbereich der vielleicht vorhandenen Kameras vor dem Netto.
    »Aber wir konnten ihn nicht überreden«, flüsterte sie. »Wir haben es versucht. Und ich konnte nicht bleiben, ich konnte ihn auch nicht zurückbringen, er hat gesagt, ich soll gehen …«
    Und auf einmal begriff sie etwas.
    »So ist es, wenn Nashville seine Geschichte von der Österbergnacht erzählt«, flüsterte sie. »Die Flügel, die Reißzähne, das Pferd sind nichts als Gründe dafür, dass er nicht helfen konnte.«
    Er baute, dachte sie, einen Damm gegen die Sintflut der Schuld. Und jetzt war sie dabei, ihren eigenen Damm zu bauen. Im Grunde bauten alle Menschen ständig Dämme, Dämme gegen das Elend, das jeden Tag aus den Fernsehern und den Radios strömte, das in der Zeitung stand – das vor dem Netto auf Pappe schlief.
    Sie kletterte in den

Weitere Kostenlose Bücher