Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Friedhof führte rechts ein Weg hinauf, schmal, asphaltiert, steil. Sie stiegen ab, und Svenja schob das Rad weiter, und so fanden sie den Garten. Er war wirklich schräg. Nur die Blumen und die Bäume wuchsen gerade in die Höhe.
»Er hat mir mal von einem Baumhaus erzählt«, flüsterte Nashville. »Da, schau. Vielleicht lassen sie uns im Baumhaus übernachten. Vielleicht für länger. Das wäre schön.«
Svenja streckte die Hand nach dem Gartentor aus, einem metallgerahmten, modernen, abweisenden Tor. Das Tor war verschlossen. Und jetzt schlug im Garten ein Hund an. Sekunden später war er da, ein wütender Kläffer, der am Zaun hochsprang und nach der Nachtluft schnappte. Im Haus machte jemand Licht und öffnete kurz darauf die Tür. Ein Mann.
»Guten Abend!«, rief Svenja über die Entfernung des Gartenwegs. »Bitte … Wir sind Freunde von Friedel.«
»Ich kenne keinen Friedel«, sagte der Mann. Seine Stimme und sein Schatten waren jung. Kein Großvater. Vielleicht ein Onkel, ein Feriengast, ein Sonstwas.
»Häberle!«, rief Svenja. »Friedel Häberle … seine Großeltern wohnen doch hier …«
»Unter dem Tisch«, fügte Nashville hinzu.
Eine seltsame Pause entstand.
»Häberle«, wiederholte der Mann in der Tür dann. Der Hund hatte sich innen vor das Tor gesetzt und knurrte. »Kann sein, dass die alte Frau so hieß. Die vor uns hier gewohnt hat.«
»Wo ist sie jetzt?«, rief Svenja.
Der Mann zuckte die Schultern. »Auf dem Friedhof, nehme ich an. Hören Sie, was wollen Sie um diese Zeit?«
»Wann ist sie denn gestorben?«, fragte Svenja, ohne auf seine Frage einzugehen.
Der Mann seufzte. »Wir wohnen seit neun Jahren hier. Gute Nacht.« Damit schloss er die Tür, schloss den Blumenduft des Gartens, schloss das Buch der Hoffnung und öffnete das des Zweifels.
Friedel hatte vielleicht hier im Baumhaus gespielt, als er ein Kind gewesen war. Aber er hatte in keiner der Nächte, in denen er fort gewesen war, hier übernachtet.
Und die beiden vor dem Tor, mit ihrem alten Fahrrad, waren noch immer obdachlos.
»Du hast alles probiert«, sagte Nashville.
»Ja«, sagte Svenja. Sie saßen neben dem Fahrrad, am Fuß des steilen Weges, in dem keine Großmütter mehr unter Tischen wohnten. Vor ihnen standen der Koffer und der Rucksack. Es war dunkel, und es regnete.
»Du hast mich immer mitgenommen«, sagte Nashville. »Mir Sachen gezeigt. Betten. Duschen. Buchstaben.« Er stand auf. »Jetzt zeige ich dir mal was.«
»Was?«, fragte sie und sah zu ihm empor.
»Ich zeige dir meine Welt«, sagte er. »Du schläfst bei mir. Komm.«
Er drehte sich um und ging einfach los, die Straße hinunter, am Friedhof vorbei.
»Warte!« Ihre Worte waren zu laut in der stillen Nacht, und Hölderlin zuckte in seinem Grab. »Wo schlafen wir denn?«, flüsterte Svenja, als sie Nashville eingeholt hatte, auf einem Pedal des Rades rollernd. »Wo?«
»In einem Hotelzimmer, das du noch nicht kennst«, antwortete er mit einem Lächeln, das irgendwie unkindlich wirkte. »Unter der Brücke an der Neuen Ammer. Du bist jetzt eine von uns. Die Brücken sind gut für solche.«
Von der kleinen Brücke aus sah man das Parkhaus König. Svenja dachte an ihren Vater, der hier am Morgen in ein Auto gestiegen war, um nach Hause zu fahren. Nach Hause. Ein Wort, das sie vermutlich aus ihrem Vokabular streichen musste.
Einen Moment lang blieb sie am Brückengeländer stehen, in der Oben-Welt, wo Autos vorüberfuhren und Lichter durch die Regennacht strahlten. Es war sehr nass und kalt in der Oben-Welt. Sie holte tief Luft, dann folgte sie Nashville die schmale Treppe hinunter, zu dem Weg, der am Bach entlangführte. Und von dort aus in den Schutz der Brücke: in die Unten-Welt. Die Unten-Welt war trocken und hieß sie mit stillen, fraglosen Schatten willkommen.
Sie stellte den Rucksack und den Koffer ab und sah sich um. Es gab nichts zu sehen als das schwarze Wasser der Neuen Ammer, kaum breiter als ein Gedankensprung, und den flachen Bogen der Brücke. Davor hing ein Vorhang aus dichten Regentropfen, kaum wahrnehmbar in der Dunkelheit.
Eine alte Kunststoffdecke lag zusammengeknüllt auf dem Boden. »Jemand hat sie vergessen«, sagte Nashville. »Jemand wie wir.«
Natürlich, dachte Svenja. Es gab andere zwischen den Zeilen, andere, die sich an bestimmten Plätzen trafen, Gruppen bildeten, wieder auseinanderdrifteten. Der Mörder von Sirja – würde er aufhören, wenn er Nashvilles Gruppe von Hauslosen beseitigt hatte?
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