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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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über ein schlafendes Gesicht.
    »Nashville!«, wollte sie schreien. »Nashville!«
    Aber sie schrie nicht.
    Sie rührte sich auch nicht. Sie konnte sich nicht rühren.
    Svenja sah eine Klinge blitzen. Es geschah sehr langsam. Die Hand mit der Klinge schob mit zwei Fingern Stoff zur Seite, legte sich an den Hals unter dem Stoff. Nashville schlug die Augen auf, auch das geschah langsam – alles, was passierte, passierte in einer zähen Masse aus durchsichtiger Zeitlupe. Das Gesicht über Nashville lag im Dunkeln.
    Und noch immer war es, als hielte eine eiserne Faust Svenja fest. Sie sah, wie das Messer angesetzt wurde. Über den Schlagadern, sehr sorgfältig. Nashville wehrte sich nicht. Das Messer ritzte die Haut, da war ein erster Tropfen Blut aus einem oberflächlichen Gefäß, unbedeutend. Noch. Es war wie im Präp-Kurs: Das Messer würde die Gefäße Schicht für Schicht durchtrennen.
    Und endlich kämpfte Svenja sich frei aus der lähmenden Starre und sprang.
    Sie hielt Katleens Messer in der ausgestreckten Hand, um es in die Brust des Schemens zu stoßen, aber er warf sich zur Seite, und Svenja landete auf dem Boden. Alles war nass und warm, und sie begriff, dass das Nasse, Warme Nashvilles Blut war. Sie war zu spät gesprungen.
    Mit einem Aufschrei kam sie hoch – da breitete der Schemen zwei riesige Schwingen aus, Engelsschwingen voll rauschender Federn, und erhob sich in die Luft. Er glitt einfach durch den Stein der Brücke hindurch, und das Letzte, was Svenja von ihm sah, war das Blitzen eines verirrten Taschenlampenfunken auf einem Gebiss voller Reißzähne. Irgendwo über ihnen wieherte ein Pferd.
    Einen Moment lang saß sie keuchend in der Dunkelheit, umgeben vom Blut, das in die Neue Ammer tropfte. Man konnte bereits spüren, wie der Bach von all dem Blut anschwoll und über die Ufer trat …
    Sie fuhr hoch und starrte in die frühe Dämmerung. Nashville lag neben ihr, leise atmend. Die Ammer floss friedlich durch erstes rosarotes Licht. Svenja hob den Kopf und sah zum niedrigen Bogen der Brücke auf. Der Bogen war intakt. Niemand war durch den Stein verschwunden, um auf Engelsschwingen fortzufliegen.
    Sie hatte geträumt, das war alles.
    Der Morgen kam.
    Es regnete nicht mehr.
     
    Sie sah Nashville lange an.
    Im Schlaf wirkte er kindlicher als bei Tag. Das Dunkel seiner Augen war gut hinter den Lidern verborgen. Seine Lippen bewegten sich im Traum, als spräche er mit jemandem. Sie konnte sich jetzt nicht mehr vorstellen, dass sie ihn geküsst hatte. Und sie war froh, dass nicht mehr passiert war. Vielleicht hatte sie einmal etwas nicht vermasselt.
    Die Nacht war vorüber und mit ihr die Unwirklichkeit und die Angst. An diesem Tag würden sie ein Zimmer finden, und wenn nicht, in die Jugendherberge ziehen, vorübergehend. Es musste eine Jugendherberge geben. Keine Experimente mehr. Keine Fallen mit lebenden Ködern.
    Sie griff in die Seitentasche des Rucksacks, um ihr Portemonnaie herauszuholen und nachzusehen, wie viel Bargeld sie hatte. Ob es reichte, um im
Pfauen
frühstücken zu gehen. Wenn nicht, würde sie etwas am Automaten abheben. An diesem Morgen waren ihr alle Sparmaßnahmen gleichgültig.
    Das Portemonnaie war nicht in der Seitentasche des Rucksacks. Es war auch nicht in der anderen Seitentasche. Svenja räumte den Rucksack komplett aus. Den Koffer ebenfalls.
    Das Portemonnaie. War. Nicht. Da. Das Handy übrigens auch nicht.
    Nashville bewegte die Beine im Schlaf, als liefe er.
    Waren die Schritte in ihrem Traum in der Realität ganz andere Schritte gewesen? Jemand hatte sich über die Schlafenden gebeugt, ja, aber nicht mit einem Messer in der Hand. Jemand hatte mitgenommen, was er gefunden hatte. Er hatte natürlich ein wenig gesucht, ehe er fand. Irgendjemand. Es war unwichtig, wer.
    »Ich habe nichts mehr«, flüsterte Svenja, ungläubig. »Kein Geld. Keine EC -Karte. Keinen Ausweis und keine Krankenkassenkarte … gar nichts.«
    Natürlich war es möglich, all diese Dinge wiederzubeschaffen. Sie war nicht die erste Person auf der Welt, der ein Portemonnaie gestohlen wurde. Sie musste nur jemanden finden, der sie telefonieren ließ … Aber Katleen war nicht da. Und wo die Bauwagensiedlung war, wusste sie nicht.
    Plötzlich musste sie lachen. Sie sah ihren Besitz an, der unter der Brücke verstreut lag: die Kleider. Das alte Poster aus Spanien. Ein Knäuel an nie getragenen Halsketten, eine Parfumflasche, eine Schneekugel. Ein Badeanzug, ein Kartenspiel. So viele Dinge! Der

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