Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
legte etwas hinein, etwas Kaltes, Hartes, Scharfes. »Du musst das vielleicht benutzen.«
»Welches ist es? Es ist nicht der Dolch … Ist es das aus Edelstahl? Das von Katleen?«
Sie spürte sein Nicken in der Nacht.
»Nashville«, wisperte sie, »das ist völlig wahnsinnig. Es ist kein Spiel. Nicht so wie das mit den Wölfen.«
»Er kommt wahrscheinlich gar nicht«, sagte Nashville. Aber er klang unsicher.
Svenja tastete nach ihrem Handy. Sie tippte die Nummer der Polizei ein, um im Notfall nur auf Wahlwiederholung drücken zu müssen. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, eine letzte Zigarette vor dem Beginn dieses Experiments.
Eine kleine Hand fischte im Dunkeln ebenfalls eine Zigarette aus der Packung. »Kannst du mir Feuer geben?«
»Ganz bestimmt nicht!«, sagte Svenja. »Ich sehe doch hier nicht zu, wie du dir die Lunge kaputt rauchst.«
»Du siehst ja gar nichts«, sagte Nashville. »Es ist viel zu dunkel.«
Die Flamme des Feuerzeugs machte es für einen Moment hell. Nashvilles Gesicht schwebte direkt vor Svenja in der Luft, sehr blass. Er wusste beunruhigend gut, wie man raucht.
Schließlich erlosch die Glut der Zigaretten, und es gab nur noch die Nacht.
»Wir müssen jetzt auseinanderrücken«, flüsterte Nashville. »Damit er glaubt, ich wäre allein.«
»Hast du Angst?«
»Blöde Frage«, sagte Nashville.
Und dann lagen seine Arme um ihren Hals, er klammerte sich an sie. Sie roch die Zigarette in seinem Atem, für die sie sich hasste. Sie spürte seine Lippen auf ihren. Sie wollte zurückweichen und wich nicht.
Ich küsse einen elfjährigen Jungen.
Höchstens
elf.
»Ich liebe dich«, flüsterte er. »Du weißt das … Ich liebe dich. Svenja.«
Sie sagte nichts, seine Lippen waren zu ihren zurückgekehrt. Er wollte mehr, als Lippen auf Lippen zu pressen, und alles an ihm sagte:
Bitte, zeig es mir. Was muss ich tun?
Du bist viel zu jung. Vergiss es. Vergiss diese ganze Sache.
Nein.
Keiner der Sätze wurde ausgesprochen, natürlich. Sie spürte Katleens Messer in ihrer Hand. Sie spürte die Schritte, die noch nicht da waren, aber kommen würden. Sie hatte nie solche Angst um irgendwen gehabt, sie war betrunken vor Angst. Sie spürte seine Zunge, tastend, fordernd. Er versuchte, sie dazu zu bekommen, dass sie den Mund öffnete.
Er war ein Mensch, und sie war ein Mensch, und das war alles.
Und dann dachte sie:
Nein.
Nein.
Nein. Ich liebe dich. Vielleicht. Und gerade deswegen: Nein.
Sie trennte sich von ihm, flüsterte Worte in die Nacht: »Nashville. Es gibt eine Grenze. Verstehst du? Nur diese eine Grenze.«
Und sie kehrte zurück in den Kuss, sie spürte seine Lippen wieder, aber sie hielt ihren Mund geschlossen,
nur diese eine Grenze
, und er verstand. Und es war gut, so wie es war.
Die Zärtlichkeit bewegte sich über alle Grenzen hinaus.
Es war der behutsamste Kuss, der je unter einer Brücke stattfand.
Er endete – auch behutsame Küsse enden –, und er ließ sie los, und sie ließ ihn los, und sie legte sich hinter dem Rucksack auf den Boden, damit es wirkte, als wäre er allein.
Sie wollte nicht schlafen, aber sie schlief sofort ein, erschöpft, das Messer fest in der Hand.
Die Schritte kamen.
Natürlich kamen sie.
Es war die Stunde der Nacht, in der das Schwarz am schwärzesten ist, aber die Schritte brauchten kein Licht, sie kannten den Weg. Sie kannten alle Wege zu allen Plätzen, an denen sie schliefen: die ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, die ohne Steuernummer und ohne Versicherungskarte.
Der Besitzer der Schritte blieb vor der Brücke stehen.
Svenja spürte seinen Blick, der tastend ins Dunkel griff, sie erwachte von diesem Blick und öffnete die Augen. Sie konnte nicht sagen, ob die Gestalt vor der Brücke groß oder klein war, ein Mann oder eine Frau, sie war nicht mehr als ein Schemen. Sie tat einen Schritt unter die Brücke. Svenjas Herz schlug so schnell, dass das Blut in ihren Ohren rauschte, und die Hitze der Angst stieg in ihr auf wie Gift. In ihrer Hand lag das Messer. Kalt.
Wo war das Handy?
Sie tastete mit der freien Hand und fand es nicht.
Und dann war da der Strahl einer Taschenlampe. Nur ein schwacher Strahl, eine Taschenlampe mit beinahe toten Batterien, vielleicht war es Absicht. Der Strahl wanderte über den Boden, über die Blechdose mit der erloschenen Kerze und die Blechdose, in der sie Nudeln gekocht hatten. Wanderte über Füße, Beine, einen Körper, in ein altes indisches Tuch gewickelt wie in eine Decke. Wanderte
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