Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Oder würde er weitermachen, so lange, bis die Schatten unter den Brücken und die Eingänge der Supermärkte leer waren?
»Hier sind zwei Dosen«, sagte Nashville. »Eine mit Löchern, eine ohne … Und eine alte Kerze. Die hat auch jemand vergessen. Ich weiß nicht, vielleicht ist das hier sein Platz, vielleicht kommt er wieder … Hast du Feuer?«
Er zündete die Kerze an, pflanzte sie in die Dose mit den Luftlöchern und füllte Wasser vom Bach in die zweite, die er auf die erste stellte, vorsichtig, als wäre es ein Kunstwerk.
»Was tust du?«
»Ich mache Tee«, sagte Nashville mit dem stolzen Lächeln eines Hausherren, der seinem Besuch einen Imbiss serviert.
»Tee? Wir haben keinen Tee.«
»Was hast du mitgenommen?«, fragte Nashville. »Aus der Küche des Hauses Nummer drei?«
Svenja suchte. Sie fand eine Packung Zuckerwürfel und eine viertelvolle Tüte Nudeln.
»Also Tee mit Zucker«, erklärte Nashville. »Und ein richtiges Essen. Noch besser.« Er streckte die Hand in den Regen hinaus und pflückte ein paar Grashalme und Blätter, die er in die Blechdose warf. Dann zog er die indischen Tücher aus ihrem Rucksack, die sie im Haus Nummer drei an der Wand gehabt hatten, und breitete zwei davon übereinander auf den harten Betonboden: ein Bett. In die verbleibenden beiden Tücher wickelten sie sich wie in Decken. Der schwarze Bach pumpte sein Wasser vorüber wie ein großes Herz.
Svenja merkte, dass sie zitterte. »Hier, das hilft«, sagte Nashville und goss etwas von der heißen Flüssigkeit aus der Blechdose in die eine Tasse, die sie aus dem Haus Nummer drei mitgenommen hatte. Sie nahm die Tasse dankbar. In diesem Moment war er älter als sie. Er wusste alles, und sie wusste nichts. Sein Gesicht beobachtete im Schein der Kerze, wie sie trank, und tatsächlich kehrte die Wärme in ihren Körper zurück. Sie teilten den Tee sehr gerecht.
»Wenn man statt Zucker Salz nimmt, ist es Suppe«, sagte Nashville. »Die Dosen sind gut. Manche haben einen Campingkocher, aber dann müssen sie Kartuschen besorgen. Kerzen sind billiger.«
Svenja nickte, und Nashville erneuerte das Wasser und kochte die Nudeln. Es dauerte ewig, bis sie weich waren. Sie schmeckten nach nichts.
Selten hatte nichts besser geschmeckt.
»Morgen«, flüsterte Svenja, »kaufen wir eine Decke und Salz und … ach was.« Sie lachte über ihre eigene Dummheit. »Morgen schlafen wir ja gar nicht mehr hier! Morgen finden wir ein Dach über dem Kopf.«
Nashville legte einen Arm um sie, als wäre er wirklich der Größere, Stärkere, Ältere.
»Das denken sie alle«, flüsterte er. »Dass es morgen vorbei ist. Aber wenn nicht, Svenja … Wir können eine Weile hier wohnen. Hier und anderswo. Ich passe auf dich auf. Wir können sogar Geld verdienen …«
Die Kerze war ausgegangen.
Svenja lehnte sich ganz leicht an Nashville, und er lehnte sich ganz leicht an sie, und es war so dunkel, dass man die Zeit in ihren Gesichtern nicht mehr sah: die Jahre, die Monate, die Tage. In der Dunkelheit waren die beiden unter der Brücke alterslos und daher gleich alt.
Nashville nahm Svenjas Hand. »Ich würde alles für dich tun, weißt du«, wisperte er. »Tee pflücken, Nudeln kochen, trockene Plätze finden … alles. Es könnte so bleiben. Wie mit Sirja, nur ganz anders. Ich würde dich nie alleine lassen und später erst wiederkommen, so wie Sirja das gemacht hat. Ich würde immer bei dir sein.«
»Ja«, flüsterte Svenja. »Und ich immer bei dir.«
Sie fühlte den kleinen, mageren Körper an ihrer Seite und hielt ihn fest.
Und dann fielen draußen Schritte in die Dunkelheit, jenseits des Tropfenvorhangs. Sie kamen den kleinen Fußweg an der Neuen Ammer entlang, auf sie zu.
»Wenn er das ist …«, flüsterte Svenja.
»Psst!«, zischte Nashville.
Die Schritte gingen die Stufen neben der Brücke hinauf und verschwanden, und als sie fort waren, war es unnatürlich still. »Er war es nicht«, sagte Svenja leise. »Aber er kann auftauchen. Jede Minute. Nashville, wie verrückt sind wir eigentlich? Wir übernachten hier alleine draußen, obwohl …«
Er legte ihr einen Finger auf den Mund. »Ich weiß. Ich habe darüber nachgedacht. Es muss so sein. Alles umgekehrt. Wie immer.«
»Umgekehrt?«
»Wir laufen nicht vor ihm weg, wir locken ihn an. Wie fängt man ein Raubtier? Man muss es locken. Mit Beute. Er kennt die Stellen, an denen solche wie wir schlafen. Er kennt sie alle, bestimmt, und er kontrolliert sie.« Er nahm ihre Hand und
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