Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
im Leben passten nicht in einen Rucksack.
Katleen öffnete noch immer nicht, als Svenja in der Madergasse klingelte. Vielleicht – höchstwahrscheinlich – war sie in der Uni. Sie fragte jemanden nach der Bauwagensiedlung. Der Jemand sagte, er wisse nichts von einer Bauwagensiedlung.
»Ich werde meine Mutter anrufen«, sagte Svenja und seufzte. »Sie hat sicher eine Idee, wie ich an einen neuen Ausweis komme und alles. Sie hat immer eine Idee …« Sie verstummte. »Aber zuerst brauchen wir Geld für das Telefonat«, sagte sie. »Und Geld für ein Mittagessen.«
Nashville führte sie stumm zur Brücke am
Neckarmüller
, an der die Touristen nur so vorbeiströmten. Sie aßen in der Unimensa. Sie holte den Schlaf der unruhigen Nacht nach; im alten botanischen Garten unter einem Baum, der über und über mit exotischen violetten Blüten bedeckt war. Sie sprachen wenig und verdienten am Bahnhof noch ein paar Groschen.
Svenja rief ihre Mutter nicht an.
Sie rief die Bank an, um die Karte sperren zu lassen. »Und wohin sollen wir die neue schicken?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung. Svenja legte auf.
Als der Abend kam, setzten sie sich auf die Stufe hinter dem alten
Osiander
, dort, wo man über eine Zwei-Schritte-Brücke zur Hintertür der Buchhandlung gelangte. Svenja las im
Schiebler
etwas über die Anatomie der Kopf-Hals-Region, und Nashville schnitt die Pizza, die das Akkordeon verdient hatte, mit Katleens Messer in sehr schmale Stücke. Von mehr Stücken wird man satter. Als die letzten Passanten fort waren, breiteten sie die indischen Tücher aus und schliefen ein, dicht beieinander. Man konnte hoffen, dass die Tür des
Osianders
von irgendeiner Videokamera überwacht wurde.
Sie schliefen trotzdem jeder mit einem Messer in der Hand.
In dieser zweiten Nacht zwischen den Zeilen wachte Svenja auf und starrte ins Dunkel, in dem nichts war. Nicht einmal ein Geräusch. Nashville lag neben ihr, sehr dicht, Wärme suchend, in einem Tiefschlaf jenseits aller Angst. Sie strich ihm durchs zerzauste Haar und musste plötzlich schlucken.
Und dann schloss sie die Augen und glitt in einen Traum hinüber, den sie selbst erschuf; schwerelos und seltsam wirklich.
Sie stand im großen Saal des Hauses Nummer drei. Die Fenster waren alle gesplittert, und das Licht zerbrach in ihren Scherben. Es war das Licht eines blauen, hohen Tages. Die alten Sessel an den Wänden waren halb verrottet, zerfressen von Ratten und Mäusen. Alte Ahornblätter lagen in braunen Haufen in den Ecken. Ein Windstoß fuhr durch die Scherbenfenster und wirbelte einige der Blätter auf, und Svenja merkte, dass sie fror. Es war nicht mehr Frühling, es war Herbst, und es musste eine Menge Zeit vergangen sein. Jahre. Irgendwer musste in der Zwischenzeit entschieden haben, das Haus doch nicht abzureißen …
Die Töne eines alten Plattenspielers schwebten durch die Luft. War es
der
Plattenspieler? Funktionierte er noch immer? Er spielte einen Walzer. Sie sah noch vor sich, wie Kater Carlo und Thierry hier getanzt hatten.
In dem Moment, als sich die Tür öffnete, wusste Svenja, dass sie gewartet hatte.
Sie hatte im Saal auf jemanden gewartet.
Und er kam.
Er schlüpfte lautlos durch die Tür. Sie erkannte ihn sofort. Da war die gleiche Dunkelheit in seinen Augen wie früher, sein Haar war auf die gleiche Art wirr. Kurz, aber wirr. Er war noch immer mager.
Er war größer als sie.
Sie schätzte ihn auf neunzehn oder zwanzig. Sie sah an sich herab und merkte, dass sie kein Männerhemd und keine sonnengelben Turnschuhe mehr trug, sondern irgendetwas Schwarzes, Vernünftiges. Auch sie war älter geworden. Zehn Jahre waren mit den Blättern durch die geborstenen Fenster geflattert, waren mit den Sesseln verrottet.
»Nashville«, sagte sie.
Sie ging auf ihn zu, sie trafen sich in der Mitte, und keiner von ihnen konnte Walzer tanzen, aber es war nur ein Traum, und deshalb tanzten sie. Sie tanzten wie Thierry und Kater Carlo, bewegten sich vorbei an Haufen alter Flaschen, an verrotteten Kabeln und den Ruinen zweier großer schwarzer Boxen.
Nashville war ihr ganze nahe, sein Gesicht über ihrem – er konnte auf sie herabsehen, aber er sah nicht herab, er hielt sie fest, und sie ließ sich von ihm führen. Sie hatten sich lange nicht gesehen. Sie wusste nicht, wo er gewesen war oder wo sie gewesen war, sie hatten ein Jahrzehnt ohne einander gelebt, jeder für sich. Die Musik verstummte mit einem letzten unmelodischen Kratzen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher