Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Nils und Friedel muss ich morgen um sechs Uhr arbeiten. Meinst du, Nashville schläft? Oder ist er wach geblieben und hat auf uns gewartet?«
»Nashville … ist wieder weg. Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Was?«, fragte Gunnar. »Nein. Das ist ein Witz.«
»Es ist nicht meine Schuld, du hast ihm selbst die Tür aufgemacht! Wir saßen eine ganze Weile da draußen auf der blauen Bank, und irgendwann bin ich über meinen Büchern eingeschlafen. Er hat mir eine Nachricht geschrieben. Dass ich das Akkordeon nehmen soll, wenn es hilft.«
»O Gott«, sagte Gunnar. Und dann zog er sie dicht zu sich heran, ganz dicht. »Svenja«, sagte er leise und eindringlich. »Du hättest mir das sagen müssen. Sofort. Bevor wir den Quatsch mit der Unterführung angefangen haben. Du darfst ihn nicht noch mal weglaufen lassen. Verstehst du?« Er schüttelte sie jetzt, wenn auch sachte.
»Verstehst du?«
»Ja, ich … Gunnar …«
»Ich habe die Tür nur aufgemacht, damit er sieht, dass er nicht eingesperrt ist, aber nachts muss er in der Wohnung bleiben!«
»Aber … wenn er bleiben muss, dann
ist
er doch eingesperrt …«
Gunnar gab ein ungeduldiges Schnauben von sich. »Was ist wichtiger? Individuelle Freiheit oder eine Chance, am Leben zu bleiben?«
Er ließ sie los und ging den Rest des Weges mit langen, schroffen Schritten.
»Wenn er nicht zu Hause ist, müssen wir noch mal los und ihn suchen«, sagte er. »Das ist dir doch klar, oder?«
Die winzige Terrasse schwebte in beinahe absoluter Dunkelheit oberhalb ihrer drei Stufen. Auf der Bank lag etwas schwer zu Erkennendes, Rundes, so groß wie ein Kopf.
Als sie näher trat, hörte Svenja das leise Atmen eines Lebewesens. Es atmete neben dem Topf mit dem Oleander. Dann wurde das Atmen zu einer Stimme. Die Stimme sagte: »Melone.«
Svenja fand die Taschenlampe doch noch, machte sie an und sah, dass der Besitzer der Stimme auf dem Kopf stand. Er kam auf die Beine und zeigte auf die Bank. »Gefunden«, sagte er.
Svenja lächelte. Wo hatte er die Melone wohl gefunden? In der Auslage eines Obstgeschäftes? Die Bank war blau. Die Melone war grün. Die Oleanderblüten waren rosa, auch in der Nacht. Und die Nacht war auf einmal warm.
Nashville besaß ein drittes Wort. »Kommt.«
Sie war sich sicher, dass es nicht »Komm« gewesen war, sondern »Kommt«. Beide, sie und Gunnar. Er klaubte die Melone von der Bank, kletterte seitlich übers Geländer der Terrasse und führte Svenja um das alte Haus herum. In der Dunkelheit wuchs hier eine schmale Feuerleiter an der Wand hinauf. Nashville kletterte, trotz der Melone in seinem Arm, so rasch hinauf wie ein Gedanke.
Svenja stieg die ersten paar Sprossen hoch und drehte sich um. Am Fuß der Leiter stand Gunnar. »Los«, flüsterte sie. »Wir klettern aufs Dach. Offenbar, um Melone zu essen.«
»Ich weiß nicht mal, wer in der Dachwohnung wohnt«, sagte Gunnar. »Ich denke nicht, dass denen das gefällt. Und ich muss noch ein paar Dinge im Internet nachgucken, wegen eines Patienten, und ich muss schlafen …«
Svenja antwortete nicht, sie kletterte Nashville nach.
Das Dach war beinahe flach. Das Mondlicht rann mit dem klebrigen Saft über Nashvilles Hände und glänzte auf dem Messer, als er die Melone schnitt – es war das alte Taschenmesser von Sirja, der Löwin.
Keiner von ihnen sagte etwas, als Gunnar über den Dachrand geklettert kam. Er stellte sich ziemlich ungeschickt an; er hatte wenig Übung darin, auf Dächer zu klettern.
Nashville reichte ihm eine Scheibe Melone. Eine Weile saßen sie nur da und aßen, drei Menschen unter dem Mond. Und dann goss Nashville einen seiner Wortwasserfälle vom Dach.
»Der mit dem Messer ist nicht gekommen. Ihr habt ihn nicht gefunden. Er kommt nie, wenn man auf ihn wartet, oder wenn er kommt, dann hat er kein Messer. In der Nacht am Österberg, da war er so schnell, viel zu schnell, das ist, weil er nichts wiegt und nichts trägt. Deshalb konnte ich ihn auch nicht einholen. Er hatte nur das Messer, und ich hatte diesen ganzen schweren Kram – Angst und Hunger und die ganzen Nächte, in denen es kalt war.«
Als der Wortwasserfall zerronnen war, legte Svenja einen Arm um Nashville, und Gunnar legte einen Arm um Svenja. Sein Ärger schien verraucht zu sein, oder möglicherweise hatte er ihn einfach nicht mit aufs Dach nehmen können, weil er genauso schwer und unhandlich war wie kalte Nächte.
»Ich finde schon selber raus, wer der mit dem Messer ist«, sagte Nashville. »Ich bin
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