Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
aufsah.
»Wir können ihn ja immer sehen. Alle seine Freunde können ihn besuchen, du und Friedel und Katleen und die anderen aus dem Haus Nummer drei … Und Nancy, wenn sie wieder da ist … Es wird auch nicht für lange sein, dass er wegmuss. Nur für eine Weile. Wer weiß, was später passiert? Wer weiß, ob er nicht zu dir zurückkommt? Er wird es selbst entscheiden. Aber eine Menge Dinge müssen geklärt werden.«
»Ja. Verdammt«, sagte Svenja. »Ja. Natürlich.«
Und etwas wie eine große Erleichterung breitete sich hinter den Tränen aus.
»Keine Experimente mit Limetten«, sagte Gunnar. »Nicht hier. Keine gefährlichen Ausflüge mehr in der Nacht. Bitte.
Bitte
, Svenja.«
»Ja.«
Es war, als könnte sie nichts anderes mehr sagen als dieses Wort. Sie war erschöpft. Sie fragte sich, wo Nashville seine Messersammlung hatte.
»Ich bringe ihn hin, wenn du willst«, sagte Gunnar und setzte sich auf. »Ich nehme mir frei, ich bin offiziell krank. Mich darf er hassen, weil ich ihn wegbringe. Besser, er hasst mich als dich.«
»Wohin genau bringst du ihn? Und wann?«
»Morgen«, sagte Gunnar. »Raus nach Reutlingen, in die Kinderpsychiatrie. Die werden entscheiden, wie es mit ihm weitergeht und wer sich kümmert. Es … es wird schrecklich sein, weil ich ihn anlügen muss, damit er mitkommt …«
»Was wirst du sagen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Gunnar und zog sie an sich. »Ich weiß es nicht.«
Sie roch seine Angst vor dem Tag und seinen Ärger über sich selbst, weil er lügen musste. Es entsprach vermutlich nicht dem Prinzip des Ideals. Sie lagen lange so auf dem Bett, in der schwärzesten Nacht, und taten nichts, als sich zu umarmen, und in Svenja breitete sich das irrationale Gefühl aus, dass alles zu Ende war.
Sie hatte es natürlich geahnt. Sie hatte immer geahnt, dass es enden würde – ihre Zeit mit Nashville, ihr Leben zusammen. Und, vermutlich, auch ihr Leben in Gunnars Bügelzimmer.
»Geh jetzt rüber und schlaf noch ein bisschen«, flüsterte er.
Sie spürte seinen Körper, und sie spürte, dass er im Grunde nicht wollte, dass sie hinüberging. Aber es war vernünftig. Und sie ging.
Nashville lag auf der Seite. Er schlief so fest, dass sie ihn kaum atmen hörte. Sie legte sich neben ihn und sah ihn an. Das Straßenlaternenlicht, das durchs Fenster fiel, machte alles auf merkwürdige Weise schwarz-weiß wie in einem alten Film.
Und in dem schwarz-weißen Licht hörte sie wieder die Töne des Walzers von der uralten zerkratzten Platte. Sie schloss die Augen und sah den Saal im Haus Nummer drei noch einmal vor sich. Den Saal, in dem sie mit Nashville tanzte. Sie tanzten über die verrotteten Kabel, vorbei an den kaputten Boxen … Diesmal blieben sie nicht stehen, sie tanzten einfach immer weiter. Der Boden zerbrach unter ihnen, die Mauern barsten lautlos, der Saal löste sich auf, der Walzer führte sie hinaus auf die Straße. Aber es gab keine Straße, die Welt draußen war leer und abstrakt.
»Nashville«, flüsterte Svenja. »Wir haben den Kuss vergessen … Es gehört ein Kuss in diesen Traum …«
Da blieb er doch noch stehen und nahm sie in die Arme, so fest, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam. Und sie erwiderte seine Umarmung. Etwas fiel, klirrend, auf den abstrakten Boden der abstrakten Welt. Ein Messer. Die Klinge war feucht von Blut.
»Ich wollte nicht, dass sie stirbt«, flüsterte Nashville. »Ich wollte es wirklich nicht.«
»Es ist lange her«, flüsterte Svenja. »Zehn Jahre … Dinge werden vergessen.«
»Nein«, sagte Nashville, der erwachsene Nashville. »Das werden sie nicht. Aber ich liebe dich.«
Svenja schreckte auf. Sie war von dem Tagtraum in einen Nachttraum gerutscht, einen Dunkeltraum, der nichts Schönes mehr an sich hatte. Sie legte einen Arm um Nashvilles magere Schultern und schlief erst später, viel später wieder ein.
Nashville war noch nicht wach, als sie am nächsten Morgen zur Uni ging. Sie verließ die Wohnung beinahe fluchtartig. Wenn sie nach Hause kam, würde er nicht mehr da sein.
Vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen.
Vielleicht erst in zehn Jahren.
Friedel war nicht in der Uni. Für Momente dachte sie, dass sie ihm gerne alles erzählt hätte. Von den Limetten, von dem katastrophalen Ende des Gartenfestes, von ihrem Entschluss. Aber wer nicht da ist, dem kann man nichts erzählen.
Sie zögerte es hinaus, Gunnar zu treffen. Sie ging von der Uni direkt zum
Contigo
, floh in den Schutz bunter
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