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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Wasser. Können wir das noch mal probieren?«
    Der Junge schüttelte den Kopf, ohne das Gesicht aus seinem Handversteck zu nehmen.
    »Schön«, sagte Svenja. »Dann weiß ich jetzt wenigstens, dass du nicht taub bist und dass wir die gleiche Sprache sprechen. Schau, das hier ist nur ein Waschlappen. Erzähl mir jetzt nicht, du hast irgendein Trauma mit Duschen. À la Hitchcock oder was. Das … das glaube ich dir nämlich nicht.«
    Der Waschlappen war ein altes grünes Nilpferd aus Frottee, die Ohren innen rot gefüttert. Sie hatte ihn von zu Hause mitgenommen. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie schon als Kind damit eingeseift hatte. Und wie das Nilpferd in den Händen ihres Vaters immer Unsinn gemacht und herumgespritzt hatte.
    Svenja tauchte das Nilpferd ins Wasser, das sich in der Duschwanne gesammelt hatte, und begann, den Rücken des Jungen sehr vorsichtig abzuwaschen. Gott, wie mager er war. Er hielt jetzt still, so still, als wäre er gar nicht vorhanden. Beinahe hatte Svenja Angst, er hätte aufgehört zu atmen.
    Das Wasser, das an ihm hinunterlief, war braun.
    »Erschrick jetzt nicht«, sagte sie. »Jetzt kommen die Haare. Wahrscheinlich bräuchten wir Läuseshampoo, aber ich habe nur welches mit Limette, wie das Duschgel. Wenigstens was mit L … Wir haben es fast geschafft …«
    Weiter kam sie nicht. Als der Wasserstrahl diesmal den Kopf des Jungen berührte, sich dort mit dem Shampoo mischte und die Dusche mit dem beruhigenden Geruch nach künstlicher Limette füllte, war es, als explodierte das reglose Bündel vor ihr. Der Junge riss die Arme hoch, sprang auf und griff die Dusche an. Da war ein unartikulierter Schrei, sie wusste nicht einmal, ob sie schrie oder ob er schrie oder ob sie beide schrien, überall war Wasser, sie sah nichts mehr, sie fühlte, wie etwas auf ihrer Brust landete und sie zu Boden warf, die Fliesen waren hart, Dinge fielen um, noch mehr Wasser spritzte in irgendwelche Richtungen – und dann war es still. Das Rauschen der Dusche war verstummt.
    Svenja rappelte sich auf. Der Duschschlauch lag in der Wanne, der Junge hatte es irgendwie geschafft, das Wasser abzustellen. Er saß ganz oben auf dem hohen, schmalen Badezimmerschrank, zusammengekauert wie eine Katze, und starrte hinunter. Er starrte nicht sie an, sondern die Dusche, in einer Mischung aus panischer Angst und tödlicher Feindseligkeit, so wie man ein Raubtier anstarrt.
    Svenja stand langsam auf und hängte den Duschkopf wieder in seine Halterung.
    Vielleicht war es kein Trauma. Vielleicht hatte dieser Junge einfach noch nie in seinem Leben geduscht.
    Aber er konnte Rühreier auf einem Gasherd braten.
    Svenja streckte die Arme aus. »Komm runter da«, sagte sie leise.
    Er zögerte. Dann ließ er sich vom Schrank gleiten, und sie fing ihn auf. Er wog fast nichts.
    Svenja hielt ihn ganz fest, dieses nasse, immer noch zerzauste Kind, sie ging mit ihm auf dem Arm in die Küche und setzte sich auf einen Küchenstuhl, und dort saßen sie eine Weile zusammen, schwer atmend. Sie merkte, dass der Junge heulte. Er versuchte, es sie nicht merken zu lassen, aber sie merkte es trotzdem. Sie merkte, dass sie ebenfalls heulte. Sie wusste nicht mal, warum.
    Schließlich wischte sie sich Duschwasser, Shampoo und Tränen aus dem Gesicht, setzte den Jungen vorsichtig ab und ging ein Handtuch holen. Er ließ es zu, dass sie ihn abtrocknete. »Du kannst was von mir anziehen«, sagte sie, »irgendetwas …« Aber er stand auf und ging ins überschwemmte Bad, um seine eigenen Sachen zu holen. Die Hose ging. Das T-Shirt war ziemlich nass. Er zog es trotzdem über.
NASHVILLE,
sagten die verblassten Buchstaben auf seiner Brust. Wenn sie nur gewusst hätte, was es bedeutete.
    »Komm«, sagte Svenja. »Ich muss noch mal weg. Und diesmal lasse ich dich nicht allein. Mit einer so gefährlichen Apparatur wie der Dusche willst du sicher nicht alleine in der Wohnung bleiben.«
    Sie lachte, aber es klang nicht gut.
    Der Junge folgte ihr die Treppe hinunter, ohne sich zu sträuben. Sie fragte sich, was sie getan hätte, wenn er sich geweigert hätte mitzukommen. Wenn die Panik ihn packte, schien er ungeahnte Kräfte zu entwickeln.
    Das
AMT
für
SOZIAL
und
FAMILIE
lag nur drei Straßen weiter. Sie gingen nebeneinanderher durch den lauen Abend, noch immer nicht ganz trocken. Mit ihnen gingen ein großer und ein kleiner Schatten. Die Hände der Schatten schienen sich zu berühren. Aber es waren nur die Hände der Schatten.
    Als sie vor dem

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