Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
zuvor, er war ganz bestimmt größer als sie, und sie brauchte in diesem Moment jemanden, der größer war.
»Hör mal, ich suche … ich suche einen Jungen«, sagte sie. »Ungefähr neun Jahre alt, weißes T-Shirt, lange braune Haare … ziemlich mager … Ich glaube, er ist hier langgelaufen, aber sicher bin ich mir nicht … Ich bin zu langsam …«
»Da rauf geht es nur zum Schloss, dann ist Ende«, sagte Friedel sehr sachlich. »Also muss er links lang sein.« Er stieg wieder auf sein Rad. »Okay. Ich bin schneller als du, ich fahre. Wie heißt er denn? Ich meine, wenn ich ihn sehe und nach ihm rufen will …«
Svenja hob die Schultern. Der Regen rann in Strömen über ihr Gesicht, und sie stand darin und zerfloss zu einem einzigen Schulterzucken. »Ich weiß nicht«, sagte sie, und es klang fast wie ein Schluchzen, aber sicher lag das nur an dem vielen Regenwasser. »Ich weiß gar nichts! Ich weiß nur, dass ich ihn wiederfinden muss! Alle glauben, es gibt ihn nicht, aber es gibt ihn, und er hat Angst vor etwas … Er versteckt sich vor jemandem … Wenn ich ihn nicht finde und ihm etwas passiert …«
Friedel, ich kenne dich nicht, aber könntest du mich bitte in den Arm nehmen? Ganz kurz?
Er sah sie eine Sekunde lang an. Er nahm sie nicht in den Arm. Er fuhr los.
»Nashville!«, schrie sie ihm hinterher. »Das steht auf seinem T-Shirt! Vielleicht weiß er das! Ruf
Nashville
!«
Sie folgte Friedel zu Fuß. Die Jeans klebte an ihr und machte das Gehen mühsam. Schließlich blieb sie wieder stehen, sah sich um und begriff, dass es sinnlos war. Jetzt hatte sie auch Friedel verloren.
»Nashville«, flüsterte Svenja und strich sich das Wasser aus dem Gesicht, während sich über ihr Blitz und Donner in einem orchestralen Lichtorgelbrüllen trafen. Die Stadt bebte für Momente, als wollte sie all ihre alten Häuser und Traditionen, ihre Unigebäude und Brunnen und Brücken abwerfen wie eine störende Hülle, derer sie längst überdrüssig geworden war.
»Nashville, bitte. Ich gebe dich nicht noch mal irgendwo ab. Ich verspreche es. Nashville.«
3 Tische
Als die Dunkelheit vor Svenja das Fahrrad wieder ausspuckte, war sie einen Moment lang unsicher, ob es wirklich Friedel war. Die Art, wie das Rad auf sie zukam, hatte etwas Beunruhigendes.
Der Fahrer bremste im allerletzten Augenblick, rutschte auf der nassen Straße und kam direkt vor Svenja zum Stehen. Natürlich war es Friedel.
Er schüttelte den Kopf.
»Nichts«, sagte er, außer Atem, »niemand. Nirgendwo.« Der Regen und der Donner verschluckten seine Worte beinahe. Er strich sich den Haartang aus dem Gesicht und stieg ab.
»Suchst du weiter?«, rief er gegen das Gewitter an. »Ich kann mitkommen, wenn du willst!«
»Bitte«, rief sie, »wenn du gerne nass wirst!« Es war ein wenig wie ein Gespräch in einer Disco.
Friedel hob die Arme; seine Pulloverärmel klebten an ihm wie eine zweite Haut.
»Ich kann nicht noch nasser werden! Komm!«
So gingen sie nebeneinander durch den prasselnden Regen, bogen in irgendeine Seitenstraße ein, sahen sich nach lebenden Schatten um, die es nirgends gab. Friedel schob das Rad, es war wie ein Pferd, das man am Zügel führt. Irgendwann zog das Gewitter weiter. Der Regen fiel leiser und stetig wie ein feuchter Vorhang. In der Ferne sangen die Sirenen der Feuerwehr, die vermutlich einen Keller leer pumpte.
»Also«, sagte Friedel, weil schließlich etwas gesagt werden musste. »Was ist das für eine Geschichte mit dem Jungen?«
»Er stand auf dem Kopf in meinem Küchenschrank«, sagte Svenja. »Nein, ich weiß nicht, wieso. Nein, ich weiß nicht, woher er kommt oder vor was er wegläuft. Ich … ich habe versucht, ihn abzugeben, bei einem Amt, das vielleicht für solche Kinder zuständig ist. Er wollte nicht abgegeben werden. Er ist gerannt. Mitten in dieses Gewitter hinein.« Sie zog die Nase hoch. »Er ist
mir
zugelaufen, er hat
mir
vertraut, und ich hab’s großartig vermasselt.«
»Quatsch«, sagte Friedel und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du hast gar nichts vermasselt.«
Svenja schüttelte die Hand ab. »Ach nein?« Sie waren irgendwie an einen See geraten, in den das Regenwasser fiel wie nach Hause. Um ihn herum standen Kastanienbäume, doch in ihren Zweigen saßen keine Kinder.
Svenja sah ins Wasser. »Ich bin richtig gut im Vermasseln von Dingen«, sagte sie. »Ich verliere auch ständig alles. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass es mir gelingt, ein ganzes Kind zu
Weitere Kostenlose Bücher