Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Fachwerkhaus stehen blieben, in dem sich das
AMT
befand, lösten die Schatten sich auf. Svenja sah zum Himmel empor. »Guck dir das an«, sagte sie. »Eine kohlrabischwarze Wolkenwand. Das gibt ein ordentliches Gewitter.«
Sie spürte wieder das verborgene Grinsen im Gesicht des Jungen.
»Kohlrabischwarz, ja«, sagte sie. »Meine Mutter hat mal einen Kohlrabi über die ganzen Sommerferien im Kühlschrank liegen lassen, während wir verreist waren. Ich weiß, wovon ich rede.«
Die ersten Windstöße fegten durch die Altstadt und brachten Papierstückchen, Kneipenmusikfetzen und eine Prise Frühsommerstaub mit. Die Luft war innerhalb von Minuten um fünf oder zehn Grad abgekühlt. Svenja klingelte an dem Fachwerkhaus.
Durch die Glaswand zwischen den alten Balken sah man eine Treppe und ein paar Topfpflanzen. Was taten die dort drin mit
FAMILIE
und
SOZIAL
? Bewahrten sie es auf? Verwalteten sie es? Therapierten sie es? Als die Tür sich endlich öffnete, stand eine freundliche Frau unbestimmten Alters davor und machte ein unbestimmtes Gesicht.
»Wir haben eigentlich schon geschlossen«, sagte sie. »Es ist nach sechs. Was kann ich für Sie tun?«
»Ja, es ist quasi … ein Notfall«, begann Svenja. »Dieser Junge ist mir … quasi … zugelaufen …«
»Junge?«, fragte die Frau. »Welcher Junge?«
Svenja drehte den Kopf. Neben ihr stand niemand.
»Fuck!«, murmelte sie. »Verzeihung. Das hat er schon mehrfach getan. Er verschwindet einfach. Er hat mitgekriegt, dass ich ihn abgeben wollte. Sie glauben jetzt, er existiert nicht, Katleen glaubt das auch, aber es ist nicht wahr … Verdammt, jetzt denkt er, ich will ihn nur loswerden …«
Aber das will ich doch. Will ich das?
Ehe sie weiterdenken konnte, rannte sie bereits die Straße entlang, einer vagen Bewegung an ihrem Ende nach, die der Junge sein konnte oder auch etwas ganz anderes.
In diesem Moment brachen die Wolken auf, und der Donner rollte tief und kehlig über die alten Dächer heran. Ein erster Blitz zuckte über den graublauen Himmel, und der Regen schwemmte den Maisommer mit ungeahnter Macht aus der Stadt. Er rann in kleinen Wasserfällen von Hausdächern und Fensterbrettern, rauschte und gurgelte in den Regenrinnen und würde das kleinere Geflüss wie die Ammer binnen Kurzem dazu bringen, über die Ufer zu treten.
Svenja rannte.
Gassen wurden überschwemmt, Regen trat sprudelnd aus Gullis, Blitze spiegelten sich im nassen Kopfsteinpflaster alter Straßen. Der Himmel war jetzt nicht mehr graublau, er war schwarz, der frühe Abend war zur Nacht geworden. War der Schatten, der dort in die nächste Straße einbog, der Schatten eines Kindes? Svenja fand sich auf dem Holzmarkt wieder und sah die Peruaner ihre Panflöten unter weiten Umhängen verstecken. Die Kneipiers zogen hastig frühjahrsoffene Fenster zu.
Sie rannte eine steile Straße hinauf, die zu glatt war, um wirklich Halt darauf zu finden … und dann rannte sie nicht mehr, dann blieb sie stehen, mitten im Regen, an einer Gabelung: Sie hatte den Schatten verloren.
Vor ihr, am Eckhaus, prangten die Worte
HOTEL HOSPIZ
.
Beinahe hätte sie gelacht. Ein Hotel inklusive Sterbehilfe. Aber in diesem Moment war der Name zu makaber, sie schauderte unter den Tropfen zusammen.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie, ihre Stimme ertrinkend im nächsten Donner. »Es war doch nicht, weil ich dich nicht mag. Ich kann das nicht. Ich kann nicht auf dich aufpassen. Vor wem versteckst du dich? Vor jemandem, der dich bei diesem Amt gefunden hätte? Wohin gehst du denn jetzt? Es ist zu nass … Die Nacht kommt, und es wird nicht trockener … Komm zurück!« Sie trat gegen die Hauswand des Sterbehilfehotels und schrie jetzt, obwohl der Junge sie natürlich nicht hören konnte.
»Verdammte Scheiße, komm zurück! Du kannst ja unter meinem Bett schlafen … mir egal … Aber so holst du dir eine Lungenentzündung und …«
»Svenja?«
War das ihr Name gewesen, mitten im Regen?
Sie fuhr herum. Es war nicht der Junge. Es war jemand, der eben von einem Fahrrad abgestiegen war – einem Fahrradkurier-Fahrrad mit einem Kasten für Post hinten auf dem Gepäckträger, postlos jetzt und leer. Er hatte ein Halstuch halb vors Gesicht gezogen, die Kleidung klebte an ihm wie ein Neoprenanzug, und sie erkannte ihn erst, als er das Tuch vom Gesicht schob.
Friedel Häberle. Der Regen hatte seine Rastalocken in klägliche nasse Rattenschwänze verwandelt. Trotzdem erschien er ihr im Unwetter größer als
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