Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
anderen?
Doch er war fort.
Sie ließ das gelbe Rad langsam den Berg hinunterrollen. Die Straße war völlig verknotet, sie hatte sich zu etwas Gordischem aufgewickelt, während Svenja über Holzens Sommersprossen nachgedacht hatte.
»Natürlich«, flüsterte sie in den Fahrtwind. »Natürlich hat er Besseres zu tun, als sich mit irgendwelchen Zweitsemestern zu unterhalten. Vergiss ihn, Svenja. Du bist ja so groß und selbstständig, haha, aber für einen wie Holzen, einen mit Arzt-im-Dienst-Schatten unter den Augen, bist du ein … ein Kind.«
Sie spuckte sich das Wort selber entgegen, abfällig, und verlor beinahe die Kontrolle über das gelbe Rad. Völlig verknotet, die Straße, wirklich.
Erst unten fiel Svenja auf, dass sie aus Versehen den Esslöffel geklaut hatte. Sie hielt ihn noch immer in der Hand.
Sie ging nicht zur Embryovorlesung, sie wäre doch nur wieder zu spät gekommen.
Sie ging einkaufen. Manchmal muss man einkaufen gehen, wenn man frustriert ist. Schokolade und Zigaretten.
Es gab einen kleinen Supermarkt mitten in der Innenstadt, gleich beim Marktplatz; eine Discounthölle in schwäbisch handlicher Größe. Im Eingang saßen zwei Penner, ein jüngerer und ein älterer mit langen, weißgrauen Haarsträhnen. Svenja legte ein Zweieurostück in ihren Pappbecher. Es brachte Glück, jemandem auf der Straße Geld zu schenken, man konnte sich dabei etwas wünschen, und das ging dann in Erfüllung.
Leider funktionierte es nur in ungefähr einem Prozent der Fälle. Trotzdem.
Sie überlegte einen Moment lang, was sie sich wünschen sollte. Dass sie Holzen noch einmal traf? Was sollte das nützen? In ihrer Tasche spürte sie das Tuch, das sie zurückgeben musste.
»Ich wünsche mir«, flüsterte sie, »dass der Junge wieder da ist.«
Als Svenja den Jakobusplatz betrat, saß jemand vor der alten Tür, halb verborgen vom Holunder.
Der Junge, es war der Junge.
Sie rannte.
»Dein … dein Tuch«, keuchte sie, als sie bei ihm ankam. »Hier. Ich habe es morgens eingesteckt, und dann warst du nicht mehr da …«
Er sah sie nicht an, schnappte ihr nur das Tuch weg und stopfte es in die Tasche seiner alten braunen Cordhose. Svenja schloss die Tür auf. »Gehen wir rein«, sagte sie. »Hunger?«
In der Küche schmierte sie Wurstbrote und räumte die Einkäufe in die Schränke, während der Junge aß. Sie räumte sehr viel, obwohl es nicht sehr viele Einkäufe waren. Sie zögerte das hinaus, was sie jetzt tun musste. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
Sie würde den Jungen zu jemandem bringen, der ihm helfen konnte, ehe er das nächste Mal verschwand. Der Junge
brauchte
Hilfe. Der Junge war nicht normal. Etwas war in seinem Leben passiert, und Svenja wusste nicht, was, aber es war auch nicht an ihr, es herauszufinden.
Die Polizei war der falsche Ort. Aber sie war auf dem Weg an einem großen, renovierten Fachwerkhaus vorbeigekommen, an dem etwas mit
AMT
und
SOZIAL
und
FAMILIE
stand.
»Dieses Kind ist
wie
lange bei Ihnen?«, hörte sie die Sozialarbeiterin schon fragen. »Zwei Tage? Und es ist dermaßen schmutzig?«
»Hör mal«, sagte Svenja. »Ich fände es eine gute Idee, wenn du duschen würdest. Wir müssen dich irgendwie sauber kriegen. Du hast einen halben Stadtpark in den Haaren.«
Bildete sie sich das ein, oder grinste der Junge? Für eine halbe Sekunde?
Sie bekam ihn ohne Probleme ins Bad. Sie bekam ihn sogar dazu, sich auszuziehen.
»Du kannst nicht mit deinen Sachen duschen«, sagte Svenja. »Keine Sorge. Ich bin ungefähr hundert Jahre älter als du, und ich tue kleinen hilflosen Jungen nichts.«
Er schien wieder zu grinsen, ganz kurz. Er legte die Hose und das T-Shirt mit dem Wort
NASHVILLE
sehr ordentlich auf den Plüschbezug des olivgrünen Klodeckels. Dann stieg er in die Duschwanne und setzte sich hin. Svenja nahm den Duschkopf und stellte das Wasser an, drückte etwas von ihrem Limettenduschgel auf einen Waschlappen – und damit begannen die Probleme.
Als das Duschgel und gleich darauf der warme Wasserstrahl den Rücken des Jungen berührten, zuckte er zusammen. Das Dunkel in seinen Augen wurde größer und schwärzer, abgrundtief, der Junge hielt die Hände schützend vor sich, als hätte jemand ihn geschlagen, gab ein Wimmern von sich und verkroch sich in die hinterste Ecke der Duschwanne.
Svenja machte die Dusche aus.
Sie hockte sich hin, streckte die Hand aus und berührte den Jungen an der Schulter. Er zitterte.
»Hey, hey«, sagte sie. »Das ist nur
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