Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
durch. Es war wie beim Theater, Zuspätkommer haben immer Plätze in der Mitte.
    Die Dozentin verstummte, bis Svenja saß. »Wenn die Dame mit der Extraeinladung jetzt auch geruht mitzuarbeiten, fahren wir fort«, sagte sie dann.
    Sekunden später füllte ihre monotone Stimme die Luft und machte sie zu etwas Breiartigem. Es war schwierig, nicht in den gleichen Halbdämmer zu sinken wie der Raum, vor allem wenn man nachts zu oft geweckt worden war.
    »Knochen?«
    Svenja fuhr hoch. Eines der kleinen identischen Mädchen reichte ihr eine Glasscheibe mit einem fingernagelgroßen Präparat darauf.
    »Ja, danke«, sagte Svenja lahm. »Hatte ich aber gar nicht bestellt.«
    Die blauen Augen neben ihr waren hundert Prozent humorbefreit. »Wie?«
    »Nichts«, sagte Svenja und legte die Glasscheibe unter ihr Mikroskop.
    Sie zeichnete die Struktur der Knochenbälkchen auf ihr Blatt und kam sich vor wie im Kindergarten. Die Katharinas und Kathrins würden sicherlich Fleißbildchen bekommen.
    Sie saß unbequem. Sie saß auf etwas, das in ihrer hinteren Hosentasche steckte.
    Das Halstuch.
    Sie hatte vergessen, es dem Jungen zurückzugeben. War es das, was er gesucht hatte?
    Oder vielleicht war der Sucher ein anderer gewesen? Jemand, der
den Jungen
gesucht hatte.
    Der Stoff des Tuchs war brüchig, es war leicht, ein Stück davon abzureißen. Die Kathrins und Katharinas waren vertieft in ihre gestochen scharfen Bleistiftporträts. Svenja legte das abgerissene Stück Tuch unter das Elektronenmikroskop.
    Sie sah nichts. Oder: Sie sah etwas und verstand nicht, was sie sah. Zellen, irgendwelche Zellen.
    Es war ihr unangenehm, zu fragen, denn die Sympathien der Dozentin lagen ganz klar nicht auf ihrer Seite. Aber jetzt hatte sie aufgehört zu dozieren, sie ging durch die Reihen und blickte ihren braven Kindergartenkindern beim Malen über die ergeben gebeugten Schultern. Dies war die vielleicht einzige Gelegenheit. Svenja drehte sich zu ihr um.
    »Es tut mir leid, dass ich vorhin so spät war«, begann sie leise. »Das hat einen sehr komplizierten Grund … Bitte, können Sie mir sagen, was das hier ist? Es ist keines der Präparate, mit denen bin ich durch, aber das hier interessiert mich. Mikroskopieren an sich finde ich sehr interessant …« Lügnerin.
    Die Dozentin sah durchs Mikroskop. Sie murmelte etwas, verstellte die Schrauben, murmelte wieder etwas. »Es ist nicht fixiert«, sagte sie, missbilligend.
    »Nein«, sagte Svenja. »Nur … quasi … getrocknet.«
    »Nichts besonders Aufregendes«, sagte die Dozentin und richtete sich auf. »Blut.«
    »Wie bitte? Blut von einem … Menschen?«
    »Wenn es anständig ausgestrichen und fixiert wäre, könnte ich das sagen«, meinte die Dozentin. »Vögel zum Beispiel haben in ihren Erythrozyten Kerne … aber so … Was ist es denn?«
    »Ein Stück Stoff, das ich gefunden habe. Auf … der Straße.«
    »Dann«, sagte die Dozentin säuerlich, »bist du natürlich einem Mordfall auf der Spur, was?« Sie beugte sich über Svenjas Zeichenblätter. »Und was ist
das

    »Ich dachte … die Präparate? Das Verschmierte hier sind die Zellkerne …«
    »Soso«, sagte die Dozentin. »Kunst. Schon mal was von einem Bleistiftanspitzer und einem Radiergummi gehört?«
     
    Nach dem Präp-Kurs stand eine ganze Gruppe von Leuten draußen herum, und Svenja stellte sich dazu. Die anderen redeten über Zellkerne. Auf Schwäbisch.
    Sie sah sich nach dem Typen mit den Rastalocken um, dessen Name ihr im Moment nicht einfiel. Er war nicht da. Es gab zwei Histo-Kurse, offenbar war er im anderen. Svenja wickelte eine der bunten Garnsträhnen um ihren Finger und spürte die Ausbeulung des blaugrauen Tuchs in ihrer Tasche. Für einen Augenblick sah sie wieder die scharf geschnittenen Konturen von Katleens Gesicht vor sich, die Wimpernaugen, die sie musterten, prüfend.
    »Bei Medizinern gibt es zwei Sorten«, hatte Katleen gesagt, als sie ihr den Fahrradschlüssel gegeben hatte. »Die einen werden Chirurgen oder Orthopäden und verdienen Geld. Meistens in Papis Fußstapfen. Die anderen sind von dem Gedanken beseelt, zu helfen. Das sind weniger, aber es sind die Gefährlicheren. Kann es sein, dass du ein bisschen zu sehr helfen willst? Kann es sein, dass es den Jungen in deiner Wohnung gar nicht gibt?«
    »Natürlich gibt es ihn«, hatte Svenja geantwortet. »Ich habe ihn doch gesehen. Mehrmals.«
    »Ja, du schon«, hatte Katleen gesagt.
    Und dann war sie auf ihr eigenes Rad gestiegen, um zu ihrer

Weitere Kostenlose Bücher