Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Svenja.
»Kann schon sein«, sagte Katleen und strich ihr mit zwei Fingern über die Augen, und da schlief sie weiter, ohne zu träumen.
Die nächsten beiden Wochen lang versuchte Svenja, ihr Leben aufzuräumen.
Sie ging zu den Vorlesungen und kam nur zu der Hälfte davon zu spät. Wenn sie zu spät kam, fiel sie natürlich auf, die bunt umwickelten Strähnen in ihrem Haar leuchteten durch die Vorlesungssäle. Sie versuchte, den Dozenten ein entwaffnendes Lächeln zu schenken.
»Tut mir leid«, murmelte sie, so leise, dass niemand es hörte. »Ich habe diesen Jungen zu Hause … Heute Morgen, als ich Tee gemacht habe, ist er auf den Küchenschrank geklettert. Es war ein ganz ordentlicher Frühstückstee, mit aufgeschnittenen Limetten und Zuckerstückchen auf einer Untertasse … aber keiner von uns hat einen Schluck davon getrunken, weil ich versucht habe, den Jungen vom Schrank zu holen.« Oder: »Heute wollte er Zwiebeln schneiden, für ein Omelette, und hat sich dabei verletzt. Es war ziemlich viel Blut, wir haben uns beide erschreckt und das Öl in der Pfanne vergessen. Und dann hat das Öl Feuer gefangen, und die Pfanne ist mir heruntergefallen auf das Linoleum, dort gibt es jetzt eine geschmolzene Stelle …«
Manchmal murmelte sie auch: »Heute Nacht hatte er wieder Albträume. Ich habe ihn gehalten, und er hat geschluchzt, und wir waren am Morgen beide zu müde, um den Wecker zu hören.«
Die Nächte mit den Träumen waren die schlimmsten. Es war ungefähr jede zweite. In diesen Nächten kroch sie unters Bett und versuchte, ihn zu beruhigen, ohne jemals herauszufinden, ob er überhaupt wach war.
Der Knöchel, den er sich bei seinem Kletterversuch verletzt hatte, heilte von selbst, aber alles andere – was immer es war – heilte nicht.
Manchmal sprach Svenja mit Friedel. Sie stand mit ihm beim Kaffeeautomaten neben dem Vorlesungssaal, Plastikbecher mit braunem Gift in der Hand, und es war ihr ein wenig peinlich, dass sie in der Gewitternacht so viel über sich selbst erzählt hatte.
»Glaubst du mir«, fragte sie, »dass es Nashville gibt?«
»Ich glaube«, sagte Friedel, »dass es unwichtig ist, ob es ihn gibt.«
»Lass mich raten, du machst später mal Psychiatrie«, sagte Svenja und warf ihren Plastikbecher in den dafür vorgesehen Plastikbecher-Einwurfbehälter.
»Keine Ahnung«, sagte Friedel. »Hör mal, dieses pflichtbewusste Vorlesungsbesuchsbenehmen … Wie lange hast du vor, das durchzuziehen?«
»Ich ordne mein Leben«, sagte Svenja und sah auf eine eintönig befahrene Wilhelmstraße hinaus. Dies war eine der wenigen Vorlesungen, die sie im Hauptgebäude der Uni hatten, und das Studentengemisch, das vorüberwaberte, war bunter als das in den Räumen der Medizin. Trotzdem: All diese Studenten sahen aus, als bräuchten sie ihre Leben nicht zu ordnen. Ihre Leben waren schon ordentlich.
»Quaak«, sagte Friedel. »Komm, wir gehen Mittag essen und lassen die nächste Veranstaltung sausen. Du solltest mal meine Mitbewohner kennenlernen, die treff ich in der Mensa. Du könntest uns was von Leipzig erzählen und …«
»Friedel Häberle«, sagte Svenja. »Geh. Ohne. Mich.«
Und ein wenig hoffte sie, er würde Nein sagen, Nein, ich gehe erst, wenn ich dich überredet habe, mitzukommen. Aber er zuckte nur die Schultern in seinem
Legalize-Eukalyptus
-T-Shirt, sagte »Ich hab Hunger« und ging.
»Und ich habe Angst«, sagte Svenja zu dem Kaffeeautomaten. »Ich habe Angst vor den Albträumen unter dem Bett. Wenn ich nicht in die Vorlesungen gehe, denke ich viel zu viel über die Nächte nach.«
Einmal sah sie Holzen. Er saß wieder vor der HNO und rauchte. Svenja winkte. Er winkte zurück, nur ganz kurz, als hätte er gar nicht gewinkt. Sie fragte sich, ob sie etwas Dummes tun sollte. Eine Blume pflücken, so eine kleine gelbe, und sie an seinem Fahrradlenker befestigen. Einen Zettel schreiben.
Danke für die Hilfe neulich. Noch funktioniert das Fahrrad.
Aber sie fuhr nach Hause, ohne den Zettel geschrieben zu haben.
Auf dem Jakobusplatz traf sie von Zeit zu Zeit Katleen, die auf einer der Steinbänke Gemüse schnitt. »Dinge, die man draußen klein schneidet, schmecken besser«, sagte sie. »Wie geht’s dem Phantomkind?«
»Er hat jetzt einen Namen«, sagte Svenja. »Nashville.«
»Es gibt Schlimmeres«, meinte Katleen. »Wenn du willst, können wir mal zusammen kochen.«
»Keine Zeit«, sagte Svenja. »Muss Anatomie lernen.«
Und sie lernte. Sie saß ganze Tage am
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