Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Küchentisch, vor dem aufgeschlagenen Anatomie-Atlas, zwischen Zetteln voller Listen, die sie aus dem
Schiebler
abgeschrieben hatte, dem Buch der Bücher, und versuchte, sich die Gefäße und Nerven des Armes in den Kopf zu hämmern. Tausend oberflächliche Venen mit tausend Zuflüssen und tausend Nerven mit tausend Abgängen. Sie baute sich Eselsbrücken für die richtige Reihenfolge der Abgänge, und am Ende konnte sie sich nur die Eselsbrücken merken und vergaß, was sie bedeutet hatten. Sie war kurz davor, das Fenster zu öffnen, um den
Schiebler
und den Atlas hinauszuwerfen.
Nashville saß mit ihr am Tisch, oder er machte Kopfstand im Küchenschrank. Vielleicht dachte er in dieser Position nach. Oder vielleicht machte er Kopfstand, um eben nicht nachzudenken.
Svenja hatte Filzstifte und einen billigen Malblock gekauft, und wenn Nashville mit ihr am Tisch saß, malte er: Unerkennbares, Verzweigtes, Seltsames. Manchmal sah er Svenja auch nur an.
Einmal war er sehr lange in ein Bild vertieft, und schließlich stand er auf und ging zum Fenster. Das Bild ließ er auf dem Tisch, es war offenbar fertig.
Svenja schlug den
Schiebler
zu und betrachtete es. Es war rot, rot von oben bis unten. Der Filzstift, noch immer offen, lag nutzlos auf dem Tisch. Er war leer.
»Nashville?«, fragte Svenja. Er drehte sich nicht um, sie sah nur seine schmale Silhouette gegen den hellblauen Abend draußen. »Was ist das? Auf dem Bild?«
In dieser Nacht verschwand er wieder. Svenja wachte auf, und sein Platz unter dem Bett war leer, und als sie später noch einmal aufwachte und von der Küche her ein früher Sonnenaufgang ins fensterlose Schlafzimmer sickerte, war er wieder da. Er schlief fest, die eine Hand zur Faust geballt, und was er darin hielt, war nicht das Tuch.
Es war ein Büschel Haare.
Zuerst dachte Svenja, es wären seine eigenen, doch die Haare in seiner Hand waren heller.
Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen und starrte an die Decke.
Sie hörte jemanden flüstern. »Ich will das nicht wissen. Ich habe das nicht gesehen und will das nicht wissen.« Sie merkte mit beunruhigender Verspätung, dass sie selbst geflüstert hatte. Da schloss sie die Augen und zwang sich in den Schlaf zurück.
Zum Präp-Kurs an diesem Tag kam sie zu spät. Der Professor ließ sie alle Arterien des Armes herunterrattern, und beim Präparieren riss ihr ein Nerv ab. Als sie nach dem Kurs draußen auf der Bank saß und rauchte, setzte sich Nils zu ihr.
»Du siehst fertig aus«, sagte er. »Sollte man sich Sorgen machen, als dein Tutor? Nachts feiern ist ja angebracht als Student, aber man muss es nicht übertreiben. Wobei ich gar nicht weiß, wo man dich eigentlich nachts findet?« Er steckte sich ebenfalls eine Zigarette an und blies den Rauch ins Tal, wo die Stadt mit ihren Kneipen lag, in denen man Svenja nachts nicht traf. »Hast du einen Geheimtipp?«
Sie sah ihn nur an, müde. »Ja«, sagte sie. »Nashville.«
Nils strich sich durch das kurze blonde Haar, mehr so, als streichelte er ein Tier, und setzte etwas auf, das er eventuell für einen Schlafzimmerblick hielt.
»Das Nashville kenn ich gar nicht. Lust, es mir zu zeigen? An welchem Abend auch immer?«
»Danke«, sagte Svenja. »Gerade an diesem Abend habe ich leider keine Zeit.«
Da zuckte Nils die Achseln und ging mit den kleinen Mädchen flirten, die alle gleich aussahen und gleich hießen. Sein Beutespektrum schien ziemlich allumfassend.
Später erinnerte sich Svenja an diesen Tag, denn es war der Tag, an dem Nashville zum ersten Mal das Haus verließ, ohne dass er vor irgendetwas weglief oder nachts davonschlich. Und ohne dass sie ihn abgeben wollte. Er verließ das Haus auf ganz normale Art und Weise mit Svenja, um einkaufen zu gehen.
»Ich brauche auch Zigaretten«, sagte Svenja. »Irgendwie verschwinden meine Zigaretten.«
Nashville reagierte nicht.
Sie schob das gelbe Katleen-Ex-Mitbewohnerinnen-Fahrrad, und Nashville trug ihre Stofftasche.
Der Discounter am Nonnenhaus war größer als der andere, und Svenja mochte den gepflasterten Platz davor, auf dem sich unter einer Kastanie Caféstühle drängten. In dem schmalen Sträßchen am Ammerkanal stand eine lange Eisladenschlange, und im Kanal selbst paddelte eine Entenmutter mit ihren Jungen. An einer Stelle gab es eine winzige Brücke, die zum Hintereingang der Buchhandlung
Osiander
führte. Ein Scherenschnittherr prangte schwarz auf dem Emblem am Fenster; vielleicht dachte er über die Seltsamkeiten des
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