Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
modernen Buchmarkts nach, auf dem die meisten Menschen nicht mehr über Brücken gingen, um Bücher zu kaufen, sondern nur noch drei Schritte durch die eigene Wohnung, bis zum Computer.
Der ganze warme Nachmittag hatte etwas von einem Wimmelbild, man verlor leicht die Übersicht. Svenja spürte, dass Nashville sich an sie drängte wie ein Hund. Sein Blick hetzte den Kanal auf und ab; er scannte die Umgebung nach etwas Bestimmtem – oder nach jemandem.
Als sie die Schatten des klotzigen kleinen Einkaufscenters betraten, entspannte er sich. Hier war es einfacher, die wenigen Menschen im Auge zu behalten. Die Rolltreppe fuhr hinab in ein kühles Nichts. Svenja entkorkte einen Einkaufswagen und schob ihn an den Regalen entlang. Vor ihren Augen sprangen Preise auf und ab, und sie versuchte vergeblich, zu rechnen. Ihr Kopf war zu vollgestopft mit Nervenabgängen. Früher hatte sie nie beim Einkaufen gerechnet. Aber damals hatte sie auch keinen Haushalt organisieren und keinen neunjährigen Jungen durchfüttern müssen.
Sie sah sich nach Nashville um. Er stand mitten zwischen den Regalen, und seine dunklen Augen waren so groß und bodenlos geworden, dass Svenja Angst hatte, sie könnten den Inhalt sämtlicher Regale einsaugen wie schwarze Löcher – vielleicht sogar die Regale selbst, Tübingen, die Welt, und am Ende bliebe nichts übrig als ein kleiner Junge, der ganze alleine mit seinen Augen im Nichts stand.
Sie ging zurück und zog ihn sachte mit sich. Er sträubte sich nicht, starrte nur, und sie fragte sich, ob er noch nie in einem Supermarkt gewesen war.
»Es kostet alles Geld«, sagte sie. Nashville nickte. Das war für ihn ein Maximum an Konversation. »Pass auf«, sagte sie und seufzte. »Du darfst dir eine Sache aussuchen, eine kleine, okay?«
Nashville nickte wieder.
Svenja suchte die billigsten Nudeln (Spaghetti) und die billigsten Tomaten (Griechenland, nicht-bio) und beschloss, irgendwann reich zu werden. Nur für ein Jahr oder so. Und dann nur Unsinn zu kaufen.
Beim Gemüse vergaß sie für einen Moment alle Nerven und Arterien, nahm einen Apfel, eine Tomate und eine Orange und begann, damit zu jonglieren. Drei Minuten Unvernunft waren ihr wohl gegönnt? Sie fügte eine Birne in die Jonglage ein, es tat gut, sich zu bewegen, statt vor dem Schreibtisch zu sitzen. Vor ihren Augen flogen die Farben vorüber: Rot, Grün, Orange, Gelb. Rot, Grün …
»Bravo!«, rief jemand, und sie ließ alles fallen. Die Tomate zerplatzte auf dem Fliesenboden.
»Oh, sorry«, sagte Friedel.
»Besser man nicht nehmt Tomat«, sagte der Typ neben ihm, ein langer Mensch mit krähenschwarzen kurzen Locken und einem Urlaubsakzent. Spanien.
Da war noch ein Dritter, ein zierlicher Junge, beinahe zerbrechlich, schön, ein Typ mit einem Gesicht zwischen Kind, Mann und Frau, oder einfach nur einem Gesicht für
H&M
-Reklame. Der mit dem Gesicht hob das Obst für Svenja auf und lächelte. Nur die Tomate ließ er liegen. Friedel hob die Tomate auf, und Svenja unterdrückte ein Grinsen. Es passte zu Friedel, zerdrückte Tomaten aufzuheben.
»Kater Carlo«, sagte Friedel und nickte zu dem Spanier hin. »Und das ist Thierry. Aus Frankreich. Meine Leute. Was machst du hier?«
»Kricket spielen«, sagte Svenja.
Der Spanier lachte. »Friedel, Idiot«, sagte er. »Sie kauft ein Sachen.«
»Bei Svenja weiß man nie, ob sie nicht irgendetwas ganz anderes tut als das, was man erwartet«, sagte Friedel und zuckte die Schultern. »Zurzeit ordnet sie ihr Leben. Indem sie im Supermarkt mit Tomaten jongliert. Ich habe versucht, sie zu uns einzuladen, aber sie hängt lieber mit den braven kleinen Mädchen rum und heiratet demnächst einen Medizinstudenten im Polohemd.«
»Lass mich durch, Friedel«, sagte Svenja. »Ich muss zur Kasse.«
Sie schob den Einkaufswagen weiter und ließ Friedel stehen, mit der zerquetschten Tomate in der Hand. Sie fühlte, dass er ihr nachsah. Der Spanier, dachte sie, der Spanier hatte was.
Kater Carlo?
Sie schüttelte sich. Alle verrückt.
An der Kasse stand Nashville und hielt eine Packung Filzstifte hoch, inklusive einem nagelneuen roten Stift.
»Von mir aus«, sagte Svenja.
Sie häufte die Einkäufe auf das Band, befreite eine Packung Zigaretten aus ihrem Gittergefängnis und sah zu, wie die Verkäuferin die Dinge übers Band zog. Sie hatte den Blick einer melancholischen Nacktschnecke. Im Eingangsbereich des Supermarktes standen zwei Penner mit einer Tüte voller Pfandflaschen. Es waren die gleichen,
Weitere Kostenlose Bücher