Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
schneller werden und eine ängstliche Hitze hinter ihren Schläfen. Sie wollte wissen, wohin er ging, jetzt. Noch hatte sie den Mut.
Beinahe war die Stadt ihr nachts zu groß, wie ein geliehenes Hemd. Diese Stadt, diese Nachtstadt, gehörte ganz offensichtlich jemand anderem. Nashville führte sie quer durch die Innenstadt. Er sah sich nicht um. Die Schaufensterscheiben der Geschäfte, still erleuchtet, spiegelten stumm den kleinen vorüberhastenden Schatten, hielten das Bild einen Moment lang fest und glätteten sich dann wieder zu anonymer Gleichgültigkeit. Am Fuß der Treppe vor der Stiftskirche schliefen zwei Gestalten auf Stücken alter Kartonpappe. Über der Dönerbude bei der Neckarbrücke flatterte eine Fahne. Die neue Nation, deren Farben sie trug, stand stolz auf den Stoff gedruckt:
Bubble Tea – Pfirsich-Sojamilch
. Der Fluss lag schwarz in seinem Bett, träumende Blätter trieben vorüber.
Irgendwann fand Svenja sich vor dem Unigebäude mit seinen beiden Brunnen wieder, wo Nashville die breite, gerade Wilhelmstraße überquerte. Er ging noch immer zielstrebig, obwohl der Weg, den sie bisher zurückgelegt hatten, vollkommen unsinnig war, ein einziges Hin und Her. Er durchwanderte eine Art privates Labyrinth.
Da, da waren die weißen Fliederbüsche … Ging er wieder zu den Roßwiesen?
Nein, er ging an den Wiesen
entlang
.
Nachts waren die Blumen im Gras unsichtbar. Svenja glaubte, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen und fuhr herum, aber es war niemand da. Oder doch? Folgte ihnen jemand?
Sie hatte keine Angst.
Das war eine ziemlich gewagte Lüge.
Nashville ging jetzt einen asphaltierten Radweg hinunter. Zur Rechten erhoben sich noch immer die Roßwiesenhügel. Der Wind malte Worte ins hohe Gras:
Kehr um. Du willst nicht wissen, was er tut. Glaub mir, du willst es nicht wissen.
Wer hört schon auf den Wind? Nur die Weisen.
Links lagen jetzt Schrebergärten, Vierecke abgezäunter schwäbischer Emsigkeit. Hier gab es keine Straßenlaternen mehr. Nashvilles Mondschatten glitt über den Asphalt wie eine geduckte Katze.
Schließlich bog er nach rechts ab, auf einen kleineren Weg, und sie wanderten wieder hangaufwärts. Der Weg führte zwischen Gärten hindurch, schlängelte sich um eine Kurve – und tauchte ein in dichten Wald.
Das Mondlicht wich so plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Svenja stand zwischen Baumschatten und sah sich um. Doch, dort vorne war Nashville. Er rannte, obwohl der Weg jetzt steil war, er rannte, als wäre er kurz vorm Ziel. Da war eine weitere Kurve, und als Svenja um diese Kurve kam, fand sie Nashville nicht mehr. Der Weg war leer.
Der Wind spielte Worte auf der Flöte der Äste:
Such ihn nicht. Geh nach Hause. Du willst nicht finden, was du suchst.
Wer hört schon auf den Wind? Nur die Klugen.
Und dann sah sie den Pfad. Es war ein sehr schmaler Pfad; er führte am Scheitelpunkt der Kurve zwischen die Bäume hinein. Sie betrat ihn sehr leise, die Fingernägel in die Handflächen gekrallt. Es war nur ein Pfad, nur ein Wald, nur eine Nacht. Und Nashville war nur ein Kind.
Vielleicht war alles ein Spiel.
Der Wald fiel hier jäh zur Rechten ab, der Pfad führte am oberen Rand des Steilhangs entlang. Schwarzes Blattwerk wucherte dort, machte die Tiefe unübersichtlich, versteckte sich und anderes zwischen den hohen, alten Stämmen. Linker Hand sah Svenja die Wiesen hinter den Bäumen schimmern. Alles in ihr drängte darauf, aus dem Wald aufzutauchen wie aus einem erstickenden, zähflüssigen Meer, auf die Wiese hinauszutreten und aufzuatmen. Aber vor ihr auf dem Pfad waren leise Schritte zu hören, Kinderschritte, und dann brachen die Kinderschritte durchs Dickicht, abwärts, pfadlos jetzt. Svenja suchte mit den Füßen Halt, um den Schritten zu folgen. Brombeerranken krallten sich an ihr fest, umgefallene Baumstämme versperrten den Weg. Etwas huschte über ihren Fuß, und beinahe schrie sie auf. Ein Stein löste sich und rollte den Steilhang hinunter. Verdammt, sie machte zu viel Lärm. Nashville musste längst gemerkt haben, dass jemand ihm nachging.
Oder nicht? Glaubte er, es wäre nur ein Tier?
Sie hörte ihn noch immer vor sich … Und dann hörte sie ihn nicht mehr und blieb stehen. Er musste ganz nah sein, er war ebenfalls stehen geblieben, in absoluter Walddunkelheit.
Es roch penetrant nach modrigem Waldboden, süßlich und betäubend: ein Geruch von verwesenden Blättern, von Pilzen und Regenwasser, von Zersetzung und neuem Wachstum.
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