Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Kittel«, sagte Svenja. »Weißt du, den hatte ich nur erst nicht verstanden. Danke. Aber das nächste Testat schaffe ich ohne Spickzettel, okay? Und jetzt gehen wir Friedels Drachen einheizen.«
Die Roßwiesen lagen im Osten der Stadt. Man musste die Straße gegenüber der Uni nehmen, wo eine weiße Fliederhecke blühte, dann ging man durchs Gras hinauf. Von oben sah man das ganze Tal, und es wurde, sobald man es sah, unwichtig und klein. Irgendwo hinter den Wiesen ragten Baumwipfel auf, dort gab es kleine, zerstreute Stücke Wald. Auf einer Seite, am Österberg, lagen die Verbindungshäuser.
»Dahinten ist die Schmissfabrik«, sagte Friedel. »Die Burschis. Lass dich bei Gelegenheit mal zu einem Fechtkampf einladen. Obwohl – als Frau darfste ja nicht zusehen, wenn sie sich schlagen … Die Säbel sind ganz schön scharf. Na, der Tequila ist billig auf ihren Partys.«
Sie wanderten am Hang entlang auf die Baumwipfel zu. Ein paar Jogger kamen ihnen auf dem schmalen Weg entgegen. Und plötzlich geschah etwas Seltsames. Nashville packte Svenjas Hand. Er blieb einen Moment lang ganz still stehen, als hätte er gerade etwas begriffen. Dann drehte er sich um und zog sie zurück. Er hatte sie noch nie von sich aus berührt, und sein Griff war sehr entschlossen.
»Der Drachenexperte hier meint wohl, wir sind schon zu weit«, sagte Svenja mit einem Schulterzucken. »Er hat recht, oder? Da vorne beginnt der Wald.«
Sie fanden die perfekte Stelle bei einer Bank mitten auf der Wiese. Der Drachen ließ sich von Friedel in die Luft werfen und jubelte im durchsichtigen Blau, als Nashville mit der Schnur durchs hohe Gras rannte.
Irgendwo auf den Roßwiesen gab es Abzäunungen für ein paar namensgebende Ponys, aber vor allem gab es Blumen, eine ganze Traumfabrik aus Frühlingsblumen, gelb, weiß, violett. Svenja machte eine kindische Blumenkette daraus. Die Nerven des Armes kringelten sich leise zusammen und verschwanden aus ihrem Kopf, beschämt ob ihrer Unwichtigkeit. Sie sah Nashvilles verfilztes Haar mit dem Drachen um die Wette fliegen – und mit den Rastalocken von Friedel. Sie rannten alle drei, bis sie nicht mehr konnten, und da war es schon lange Nachmittag.
Friedel ließ sich ins Gras fallen.
»Man könnte den Hang runter«, sagte er. »Oder? Den Drachen holen wir später.«
Damit stieß er sich ab und rollte einfach los, Beine und Arme steif ausgestreckt.
Svenja sah zu Nashville. Nashville nickte. Und sie legten sich ins Gras und rollten Friedel nach.
Es war ein verrücktes Gefühl. Der Himmel und die Wiese rasten im Wechsel an ihr vorbei, sie bekam Gras und Erde in den Mund. Gott, vielleicht würde sie nie mehr anhalten, sondern immer weiterrollen, einmal rund um die Erde und mit Schwung hinaus ins All … Doch als sie auf dem untersten Stück Wiese ankamen, wurde der Berg flacher und bremste ihre Rollpartie. Minutenlang lagen sie einfach nebeneinander im Gras, keuchend und lachend. Und Svenja dachte, dass sie Nashville zum ersten Mal lachen hörte.
Der Himmel über ihnen war unglaublich blau, blauer als Kaugummi.
»Übrigens, Nashville?«, sagte Friedel. »Das Schreiben … Wenn du willst, kann ich mal versuchen, es dir beizubringen.«
In diesem Moment mochte Svenja Wiedekind Friedel Häberle sehr. Es schmerzte beinahe. Aber es muss klargestellt werden, dass sie zu keinem Zeitpunkt verliebt in ihn war, weder bevor noch nachdem all die Dinge geschahen, die geschahen, weder bevor noch nachdem sie die Wahrheiten wusste, die sie irgendwann erfuhr.
Wen Svenja wirklich liebte, sollte sich erst später herausstellen.
5 Wände
Es geschah vier oder fünf Tage später.
Es geschah nachts.
Eigentlich geschah nichts.
Svenja wachte auf, und der Platz unter dem Bett war leer wie so oft. Aber diesmal war etwas anders, sie spürte es. Da war ein stilles Atmen. Nashville war noch nicht fort oder schon wieder da. Sie stand leise auf und trat in den Flur.
Etwas klickte. Die Wohnungstür. Leichte Schritte liefen die Treppe hinunter.
»Er geht«, flüsterte sie. »Er geht, und später kommt er wieder. Aber wo ist er in den Zwischenzeiten?«
Sie schlüpfte in ihre Jacke und ihre Schuhe. Irgendwann musste sie ihm ja doch nachgehen, um herauszufinden, was er tat. Ihr klarer Sternenatem schlug ihr kühl entgegen, als sie aus der Haustür trat. Sie sah den Schatten am Rand des Platzes gerade noch verschwinden.
Nashville ging schnell und sehr zielstrebig. Ein paarmal verlor Svenja ihn fast, fühlte ihren Puls
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