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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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fand – eine saubere Jeans und ein weißes Hemd, das nur eine kaputte Naht hatte – und öffnete die Küchentür.
    Der Kittel lag auf dem Tisch. Er hatte eigentlich gar nicht so viele Falten. Dafür hatte er jetzt ein Muster.
    Svenja trat näher. Träumte sie noch immer? Der Kittel war über und über bedeckt mit kleinen bunten Zeichen. Sie sahen aus wie Schrift, jedoch keine Schrift, die Svenja kannte. An manchen Stellen gab es auch Linien.
    »Nashville?«
    Er war nirgends zu sehen, aber sie hatte das Gefühl, dass er sie hörte.
    »Das war keine gute Idee«, sagte Svenja. »Diesen Kittel kann ich so nicht anziehen. Ich gehe jetzt ohne Kittel zum Testat. Das ist ein Schwerverbrechen für die Professoren. Vielleicht verwenden sie mich als nächste Präp-Leiche.«
    Etwas im Küchenschrank fiel um oder herunter, als wäre jemand, der darin saß, zusammengezuckt.
    »Nein, Quatsch«, sagte Svenja schnell. »Sie werden bloß schimpfen. Aber ich muss mal mit dir reden. Darüber, was eine gute Idee ist und was nicht. Nur jetzt, jetzt muss ich los.«
    Sie stopfte den Kittel trotz allem in die Spiegeltasche und rannte.
     
    Vor der Anatomie standen aufgeregte Studenten in Grüppchen und ließen lateinische Begriffe über ihren Köpfen hin und her schwirren wie Wespen. Svenja verspürte den Drang, danach zu schlagen. Sie ging durch die Glastüren nach drinnen, wo nur Nils und ein Mädchen standen.
    »Nils«, sagte sie. »Ich habe keinen Kittel.«
    »Was?«
    Svenja griff in die Tasche, um ihm das Kunstwerk zu zeigen, das einmal ihr Kittel gewesen war, doch ihre Hand fand etwas anderes. Einen Umschlag. Hatte sie den Umschlag ihrer Mutter mitgenommen? Sie zog ihn heraus. Nein, dies hier war ein gebrauchter Umschlag, dünn und braun:
AN DEN KLEINEN
. Ein abgerissenes Stück von einer alten Zeitung steckte darin, mit Kugelschreiber beschrieben. Die Botschaft war kaum lesbar zwischen den Bildern und Artikeln. Svenja stand da, das Stück Zeitung in der Hand, als die Tür zum Prüfungsraum sich öffnete. »Katharina Schader und Svenja Wedekind?«
    Katharina Schader trug einen perfekt gebügelten Kittel, darunter ein dunkelblaues Kostüm und hatte ihr Haar mit einer cremefarbenen Seidenschleife zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Professor musterte Svenja.
    »Sie müssen entschuldigen, Svenja hatte einen Todesfall in der Familie«, sagte Nils rasch. »Sie ist etwas durch den Wind.«
    »Sie braucht trotzdem einen Kittel, wenn wir an die Leiche gehen«, sagte der Professor ungehalten.
    »Ja, selbstverständlich«, sagte Nils. »Ich hole einen.«
    Und dann stand Svenja mit Katharina neben der Leiche und fragte sich, was für einen Todesfall sie in der Familie gehabt hatte. Und was Nils sich dafür erhoffte, dass er das gesagt hatte. Adrenalin pulste grell durch ihre Adern, sie hatte nicht einmal Zeit, Angst zu haben. Der Arm und seine Gefäße, der Arm, der Arm …
    »So«, sagte der Prof, »und nun erzählen Sie uns mal etwas über das Bein.«
    Svenja starrte ihn an.
    Der Prof sah aus dem Fenster.
    Schließlich begann er zu lachen. Nils schüttelte nur den Kopf. »Das war ein Witz«, sagte er. »Er macht das immer. Natürlich geht es um die obere Extremität.«
    Svenja warf einen Seitenblick auf Katharina. Katharina zitterte.
    »Soll ich anfangen?«, fragte Svenja.
    Und dann ratterte sie Namen herunter. Sie zeigte dem Prof jeden einzelnen verdammten Muskel mit jeder einzelnen verdammten Arterie, sogar den Nerven, den sie abgeschnitten hatte – Nils hatte aus ein paar Muskelfasern einen Ersatznerven gebastelt. Sie dachte nicht nach, während sie die Begriffe herunterratterte. Ein Teil von ihr saß unter der Kastanie, neben dem Fahrrad fahrenden König, mit Gunnar Holzen. Ein anderer Teil saß zu Hause im Küchenschrank und versuchte, in der Dunkelheit zwischen Mehl und Nudeln mit Nashville zu sprechen. Der dritte Teil strich einen Brief glatt, der auf eine alte Zeitung geschrieben war.
    »Moment«, sagte der Prof. »Den Thorax lassen Sie jetzt mal Ihrer Kommilitonin übrig, ja?«
    Svenja stoppte den lateinischen Wortfluss wie eine CD .
    »Ich …«, begann Katharina. »Der Thorax …« Dann verstummte sie, hilflos.
    »Fang mit den großen Gefäßen an«, sagte Svenja und erntete einen bösen Blick von dem Prof.
    »Sind Sie jetzt der Dozent, oder was?«, knurrte er.
    »Die großen Gefäße kannst du, Katharina«, sagte Svenja und sah dem Prof direkt in die Augen. Sie setzte Nashville in ihren Blick, seine dunkle, stumme Sturheit,

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