Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
direkt vor ihr, dass sie zu ihm aufsehen musste.
»Friedel«, sagte Svenja, und in diesem Moment war sie so froh, Friedel zu sehen, dass sie ihm um den Hals fiel. Er stand ein wenig steif da, verwundert, und sagte etwas wie: »Hey, alles klar …?« Dann umarmte er sie zurück, ganz vorsichtig. »Ich habe … Brötchen …«, begann er verunsichert.
»Mitgebracht. Ja. Das ist wunderbar.« Svenja ließ ihn los. »Warte einen Moment.«
Sie ging zurück ins Schlafzimmer.
»Ich dachte, ich wecke dich, damit du nicht schon wieder Histo verpasst«, sagte Friedel hinter ihr. »Wir haben noch genug Zeit zum Frühstücken … Im Übrigen könntest du meine Unterschrift üben, damit ich nächstes Mal ausschlafen kann.«
Svenja kniete sich auf den Fußboden vors Bett. Friedel kniete sich neben sie.
»Was …?«
»Psst«, flüsterte Svenja.
Sie sah den kleinen Körper in der staubigen Dunkelheit deutlich. Doch neben ihm lag noch etwas – etwas Neues. Groß und klobig.
»Schläft er immer dort?«, flüsterte Friedel.
Svenja nickte. Der kleine Körper lag sehr still. Zu still. Wenn, dachte Svenja, wenn gestern Nacht etwas geschehen war, das sie hätte verhindern können … Wenn er zwar zurückgekommen war, aber verletzt … Wenn er nicht mehr atmete … Dann hatte er sie mit einem Rätsel allein gelassen. Einem Rätsel und einem Brief und einem
Wir
, das ihr alles in die Schuhe schieben würde. Oder hatte dieses
Wir
dafür gesorgt, dass ihm etwas zugestoßen war?
»Schläft ja ganz schön fest«, sagte Friedel. »Wir wecken ihn besser, sonst verpasst er die Brötchen. Er kann nach dem Frühstück weiterschlafen.« Er griff unters Bett und zog den widerstandslosen, schlaffen Körper hervor. Nashvilles Gesicht war still wie ein Bild. Ein zerkratztes Waldbild.
»Hey«, sagte Friedel. »Nashville?«
Und da öffnete Nashville die Augen. Sein Blick war verschwommen, er wurde erst langsam wieder scharf, und Svenja merkte, dass auch ihr eigener Blick ein wenig verschwommen war.
»Ihr, äh, seht euch direkt ähnlich«, sagte sie. »Frisurmäßig, meine ich.« Sie griff selbst unters Bett – in erster Linie, damit niemand sie heulen sah – und zerrte den großen, klobigen Gegenstand hervor.
Ein Akkordeon.
Die Griffe und Tasten waren erdverschmiert, Stücke von Blättern hatten sich an einigen Stellen dazwischen verfangen. Nashville nahm ihr das Akkordeon weg und legte die Arme darum.
Svenja sah ihm in die Augen.
Weißt du, dass ich dir gestern Nacht gefolgt bin? Hast du mich gehört? Oder warst du zu sehr mit etwas anderem beschäftigt? Was ist dort im Wald? Mit wem hast du dich getroffen?
Er erwiderte ihren Blick, ernst und ohne zu antworten.
Da zuckte Svenja die Achseln, stand auf und ging Kaffee kochen. Wenn du nichts weißt und nichts verstehst und nicht einmal verstehst, was du nicht weißt, dann ist es das Klügste, Kaffee zu kochen.
Das Frühstück verlief so, dass Svenja und Friedel am Tisch saßen und Nashville unter dem Tisch, wo er das Akkordeon mit dem Abwaschlappen säuberte. Er versuchte nicht, ihm einen Ton zu entlocken, es war stumm wie er.
»Meine Großmutter«, sagte Friedel, »die hier in Tübingen wohnt – weißt du, dass sie ihre Kindheit auch unter dem Tisch verbracht hat? Erzählt man sich jedenfalls so. Sie hatte sieben Geschwister, war ja normal damals, und die anderen Kinder hatten kein Problem damit. Aber meine eigensinnige Großmutter wollte für sich sein. Und da hat sie eines Tages beschlossen, unter den Küchentisch zu ziehen. Sie hat sogar nachts dort geschlafen, samt Bettzeug. Die Beine der anderen waren die Wände ihres Zimmers.« Er grinste. »Ich muss dir mal ihren Garten zeigen. Er ist an einem Hang draußen, in der Nähe vom alten Stadtfriedhof, wo der Hölderlinturm liegt. Die Wiese ist schräg, und mein Großvater sagt, genau deshalb wollte meine Großmutter dorthin ziehen. Aber sie macht die beste Erdbeermarmelade der Welt. Ich meine bloß, die Leute haben alle ihre Spleens. Sie werden trotzdem was.«
»Hm«, sagte Svenja. Sie betrachtete Friedel, der gleichzeitig Brötchen aß und Kaffee trank und versuchte, sie aufzumuntern. Er war wie ein Stück planloser Sonnenschein.
»Kater Carlo zum Beispiel, der hat auch eine Menge Spleens, aber trotzdem ist er irgendwie brillant. Er steht jede Nacht auf dem Balkon und starrt die Sterne an. Wir warten darauf, dass er anfängt zu heulen.«
»Ist er immer noch unglücklich verliebt?«, fragte Svenja
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