Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Der Geruch vom Kreislauf des Lebens. Sie unterdrückte ihre Übelkeit.
Und dann war da ein Geräusch.
Ein seltsamer hoher Ton, immer wieder unterbrochen von abgehackter Stille. Ein Vogel. Es musste der Laut eines Vogels sein. Svenja stand ganz starr und lauschte, und plötzlich dachte sie:
Es ist kein Vogel. Es ist etwas, das zwischendurch Luft holt. Etwas, das winselt.
Der Ton ging in eine andere Sorte von Geräusch über, wurde tiefer, ein Wimmern mehr, und dieses Wimmern kannte sie. Es war das Wimmern der Albträume unter dem Bett. Etwas in Svenja zog sich schmerzhaft zusammen.
Sie machte einen Schritt auf das Geräusch zu. Vielleicht war er gefallen, vielleicht war er verletzt, vielleicht war dies nicht das Ziel seiner nächtlichen Wanderung. Vielleicht war diese Wanderung ziellos. Noch einen Schritt.
Da hörte sie die Stimme.
Eine Stimme, die sie nicht kannte, eine leise kratzende Frauenstimme. Sie sagte nur ein Wort:
»Nein.«
Und dann einen Satz, einen einzigen Satz:
»Bleib hier.«
Das Wimmern hatte aufgehört.
»Nein, nein, nein, nein«
, sagte die Stimme.
Es raschelte wieder, sie hörte ein Keuchen wie von jemandem, der sich anstrengt. Und da überschlug sich die Schwärze der Nacht in Svenja. Die ganze raschelnde Dunkelheit implodierte.
Sie drehte sich um und rannte. Ihre Füße verfingen sich in den Brombeerranken, sie fiel, rappelte sich hoch, fiel wieder, rollte hangabwärts, spürte, wie Dornen und Äste ihre Arme und ihr Gesicht blutig kratzten. In ihren Ohren steckte die Panik wie weiße Watte, die Welt war für Momente absolut still. Zwischen den Bäumen über sich am Hang sah Svenja für Sekunden den Umriss einer Gestalt – einer Gestalt, die etwas Großes und Schweres trug. Dann sah sie gar nichts mehr, alles bestand aus Schwärze und Rascheln und Abwärts und Nicht-Anhalten.
Als sie schließlich liegen blieb, war ihr ganzer Körper taub. Sie hatte keine Schmerzen, sämtliche Nerven, wie immer sie hießen, waren in ihrer Panik ertrunken. Sie zwang sich, aufzustehen. Sie befand sich zwei Meter neben dem Fahrradweg. Auf der anderen Seite trennte ein Jägerzaun die öffentlich zugängliche Nacht von der privaten Nacht eines Schrebergärtchens.
Der Mond machte den asphaltierten Weg zu einem harten, weißen Fluss. Svenja rannte ihn entlang, ohne sich umzusehen. Sie rannte bis zu den weißen Fliederbüschen, bis zum Unihauptgebäude. Die Springbrunnen davor sprangen nicht mehr, die Bassins lagen still. Sie dachte daran, wie sie mit Friedel vor der Mensa gesessen hatte, gar nicht weit entfernt, sie dachte an Sonnenschein und Milchkaffee. Die Nacht lachte über so spröde Begriffe wie Sonnenschein und Milchkaffee.
Als Svenja schließlich die Treppe zu ihrer Wohnung hochstolperte, bekam sie kaum noch Luft. Sie sollte, dachte sie, mit dem Rauchen aufhören. Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und steckte sich eine Zigarette an.
Was habe ich gesehen?, flüsterte sie – lautlos, da sie sich nicht traute, die Stille der Küche zu unterbrechen. Sie hatte nicht einmal Licht gemacht, das Licht des Mondes und der Stadt reichte aus. Was habe ich gehört? War da wirklich eine Frauenstimme? War da wirklich ein Keuchen? War da wirklich eine Gestalt, die etwas Schweres trug? Oder war all das nur das Produkt meiner eigenen Angst vor dem raschelnden nächtlichen Wald?
Sie versuchte, sich an das Wimmern zu erinnern.
Sie konnte sich nicht erinnern.
Sie hatte das Geräusch aus ihrem Kopf in den Wald projiziert, aus ihrer Erinnerung an Nashvilles Albträume. Natürlich, so musste es sein, es hatte das Wimmern im Wald nie gegeben.
Es durfte das Wimmern nicht gegeben haben.
Sie stellte sich unter eine eiskalte Dusche, um alle Trugbilder zu verscheuchen. Die Dusche war so heiß, dass sie zurücksprang. Der verdammte Wackelkontakt. Dieser Boiler, dachte Svenja sauer, hatte einen sehr subtilen Sinn für Humor. Sie kroch in ihr Bett. Vor dem Fenster sang der Wind. Das Fenster war offen, aber die Haustür war verschlossen.
VERGISS ES , sang der Wind. VERGISS DEN WALD . VERGISS DEN JUNGEN . VERGISS ALLES .
Aber wer hört schon auf den Wind? Nur die Herzlosen.
Sie ging noch einmal hinunter, öffnete die Haustür und ließ sie angelehnt.
Svenja wachte davon auf, dass jemand an die Wohnungstür klopfte. Natürlich, die Haustür unten war nicht abgeschlossen. Verdammt. Sie stand auf, schnappte sich eines ihrer Hemden und eine Unterhose und öffnete die Tür.
Der, der geklopft hatte, stand so
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