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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Notebook herum.
    »Wäre Graffiti nicht effektiver?«, fragte Svenja mit einem Blick zu Kater Carlo. »Um die Wand bunt zu kriegen?«
    »Graffiti?« Thierry schaffte es, ein ganz und gar französisches Wort daraus zu machen. Er kniff die Augen zusammen und sah zu ihr auf – seine Augen waren grün und irgendwie katzig. »Wenn wir sein wollen wie alle, kaufen wir uns einen Bausparvertrag und einen Hund.«
     
    Sie wollte wirklich einfach nach Hause gehen und schlafen.
    Aber ihre Füße machten einen Umweg durch die Innenstadt, und sie erwischte sich dabei, wie sie versuchte, den sinnlosen Labyrinthweg von letzter Nacht noch einmal nachzuvollziehen. Er war nicht sinnlos, dachte sie. Es gab irgendein System, nur begriff sie es nicht.
    Vor der Stiftskirche panflöteten die Peruaner in ihren bunt gewebten Ponchos. Die Touristen sammelten sich dort wie Staub in einer akustischen Ecke. Auf der Straße hinunter zur Neckarbrücke saß eine magere Frau mit Kettenrauchergesicht und strähnigem Haar und spielte Gitarre, doch man hörte sie kaum gegen die Peruaner. Was nicht sehr bedauerlich war. Sie sang
Country Roads
 – mit einer Stimme, die lange vor den Saiten der Gitarre zerfasert war. Svenja legte einen Euro in ihren Pappbecher und wünschte sich, dass irgendetwas Schönes geschah. Die Frau nickte, aber sie sah dabei nicht freundlich aus, mehr so, als wollte sie Svenja beißen. Als Svenja ging, fing sie
Country Roads
wieder von vorne an.
    Bei der Neckarbrücke blühten die Topfblumen an den Straßenlaternen um die Wette mit den Kastenblumen am Brückengeländer. Svenja wandte sich nach rechts, sie folgte immer noch der Nachtstrecke. Gab es etwas auf dem Boden, das ihren Verlauf kennzeichnete? Gab es – sie stieß mit jemandem zusammen und sah auf.
    »Hoppla«, sagte Gunnar Holzen. Für einen winzigen Moment spürte sie seine Hände auf ihren Schultern, er hatte sie reflexartig gehoben, um sie festzuhalten, damit sie nicht fiel. Dann ließ er sie los, offenbar erschrocken über die Berührung. Die Sommersprossen in seinem Gesicht hatten sich vermehrt, waren jedoch für sich genommen noch immer winzig. Er lächelte.
    Er freute sich, sie zu sehen, dachte Svenja. Es war doch wahr: Bettler konnten Wünsche erfüllen.
    »Und?«, fragte Gunnar.
    »Und – alles«, sagte Svenja. »Wohin sind Sie … bist du unterwegs? Ich schulde dir noch einen Kaffee …«
    »Nicht jetzt«, sagte Gunnar. »Ich meinte: Wie war Anatomie?«
    »Oh, das. Ich habe bestanden, danke.«
    Sie merkte, wie sie rot wurde, und sah weg, aufs flirrende Windwasser des Neckars hinaus. Heute waren wenige Kähne dort unterwegs. Natürlich hatte Gunnar Holzen keine Zeit für einen Kaffee. Er war erwachsen. Er hatte einen Job. Er hatte ein Leben. Und eine unfertige Doktorarbeit. Er würde sie stehen lassen und gehen.
    Er ging nicht; noch nicht.
    »Wie geht’s dem Jungen, der dir zugelaufen ist?«, fragte er, ernster jetzt. »Hat er angefangen zu reden?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Er hat Angst. Vor irgendwas. Und ich habe einen Brief bekommen, aber ich weiß nicht, von wem.
Wir
, schreibt der in dem Brief.
Wir sind immer da …
als ob da eine Handvoll Leute in der Stadt herumlaufen, die genau wissen, was mit Nashville los ist, und ihn in die Finger kriegen wollen. Und da ist … noch etwas. Etwas, das man so schnell nicht erzählen kann.«
    Gunnar musterte sie prüfend.
    »Okay«, sagte er. »Wir trinken den Kaffee, aber es darf nicht zu lange dauern, und es muss hier in der Nähe sein. Du brauchst jemanden, der zuhört. Komm.«
    Er führte sie ein Stück zurück, zu dem schiefsten italienischen Café der Weltgeschichte. Bursagasse. Svenja dachte an den Lateinkurs – Terminologie.
Bursa
,
bursae
: der Schleimbeutel. Sie saß also jetzt in der Schleimbeutelgasse und trank Kaffee.
    Die drei Tische vor dem Haus standen auf so unterschiedlicher Höhe, dass man vom einen zum anderen hinunterspucken konnte.
    »Ich kenne jemanden mit einer Großmutter, der dieses Café sehr gefallen hätte«, sagte Svenja. »Sie besitzt einen genauso schrägen Garten und hat früher unter einem Tisch gewohnt.«
    »Ach«, sagte Gunnar. Er sah so müde aus wie immer, aber auch froh: froh, sie zu sehen. War sie wieder die Landschaft, die er betrachten konnte, um seine Augen auszuruhen?
    Und dann dachte sie nicht mehr darüber nach, was sie für ihn war, sondern erzählte – vom nächtlichen Wald, von ihrer Angst, ihrem Sturz, ihrer Flucht. Von dem Akkordeon unter dem Bett.

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