Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
Gunnar hörte ihr die ganze Zeit über wortlos zu. Sie sah das Spiegelbild des Waldes und das Spiegelbild ihrer Angst in seinen Augen.
»Gehst du zurück?«, fragte er schließlich sehr leise. »In den Wald? Bei Tag?«
Svenja schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich werde dort sowieso nichts finden. Es wird nichts mehr da sein, wenn ich suche.«
Gunnar nickte. »Ich glaube …«
»Gunnar?« Sie sahen gleichzeitig auf. Die Person, die gerufen hatte, kam jetzt die Bursagasse hinunter.
Schwebte
wäre eigentlich das richtige Wort gewesen. Eine kleine, zarte junge Frau – keine Studentin, eine Frau – mit dunklen Locken und einem schwerelosen roten Sommerkleid. Sie war, alles in allem, ein Bild.
Gunnar stand auf. Sein Blick war schuldbewusst.
»Julietta!«, sagte er. »Da bist du! Ich habe jemanden getroffen …«
»Und ich habe auf dich gewartet«, sagte Julietta, weniger ärgerlich als erstaunt. Ihr Erstaunen zeigte sich in den makellosen Bögen ihrer hochgezogenen Augenbrauen. »Bei der Brücke … ich wollte eben zurückgehen, noch etwas in der Stadt erledigen …« Sie nahm eine von Gunnars großen Händen in ihre kleinen, zierlichen. »Und wer ist das?«
»Das ist Svenja«, sagte Gunnar. »Zweites Semester Medizin. Ich habe … ihr mit Anatomie geholfen.«
»Ah«, sagte Julietta. »Bist du wieder Tutor? Wie früher?«
Sie überreichte Svenja ein Lächeln, dezent rosa geschminkt und auf sympathische Weise ein wenig schüchtern. Sie war perfekt. Nein, sie war
nicht
perfekt, ihre Nase war ein wenig zu prominent und ihr Gesicht nicht ganz symmetrisch, die Art von Frau, die nicht hübsch ist, sondern schön. Und sehr, sehr südländisch. Svenja merkte, wie sie noch röter wurde als zuvor. Sie sah sich selbst von außen: die unbeholfene Zweitsemesterstudentin mit dem köterblonden Strubbelhaar. Das Mädchen in Jeans und zu großem Männerhemd, das es bis eben genau richtig gefunden hatte, den Barbieklischees der westlichen Welt die Zunge herauszustrecken. Julietta war ganzkörpertailliert. Definitiv die optisch ansprechendere Alternative zu Männerhemden.
»Julietta arbeitet in der Inneren«, sagte Gunnar und legte einen Arm um ihre schmalen, zerbrechlichen Schultern. »Seit diesem Jahr. Sie hat die Anatomie auch überlebt. Wir heiraten im August.«
»Oh«, sagte Svenja. »Herzlichen … Glückwunsch.«
»Svenja, dieser Junge mit dem … interessanten … Syndrom«, sagte Gunnar, »dein … Neffe? Den würde ich mir wirklich gerne mal ansehen.«
»Ja«, sagte Svenja, erleichtert, dass Gunnar Julietta nicht die Wahrheit über Nashville sagte. Sie hatte das Gefühl, dass es nicht gut war, wenn zu viele Leute über Nashville Bescheid wussten. Früher oder später würde sonst doch jemand von einem Amt auftauchen und ihn mitnehmen. Und das würde schiefgehen, verdammt schief. »Du kannst ja mal vorbeikommen. Jakobusplatz fünf. Da wohnt er. Mein Neffe.«
Gunnar nickte.
Dann klemmte er einen Schein unter seine Kaffeetasse und nahm Juliettas Arm. Sie lächelte Svenja zum Abschied noch einmal zu, und dann gingen sie davon, ein hübsches Paar, ein Paar, das demnächst heiraten würde. Erwachsene.
»Moment«, sagte Svenja, als die beiden schon außer Hörweite waren. »Ich war dran mit Bezahlen, ich … ach, Scheiße.«
Sie stand auf und knüllte die Papierserviette zusammen, an der leider nicht viel zu knüllen war.
»Geh spielen«, sagte sie zu sich selbst.
Sie ging. Spielen.
Sie ging zum Haus Nummer drei.
Sie könnte versuchen, Kater Carlo beim Verschönern der Fassade zu helfen. Und überhaupt war es lächerlich, dass Friedel auf Nashville aufpasste. Auf Nashville musste niemand aufpassen. Warum brachte sie ihm das verdammte Schreiben nicht selber bei?
»Weil ich es nicht für sinnvoll halte, deshalb«, flüsterte sie. »Aber was ist schon sinnvoll?«
Auf der Blauen Brücke stand der Penner mit den langen grauweißen Haaren und streute seine Brotkrumen in den Wind, und unter ihm fuhren die Züge: fuhren und fuhren und wussten alle, wohin.
Svenja setzte sich auf die verlassene Treppe des Kinos vor der Blauen Brücke, das einfallsreicherweise
Blaue Brücke
hieß, und holte ihr Handy heraus. Es zeigte keine starken Gebrauchsspuren in letzter Zeit.
»Mama?«
Da war ein seltsames Geräusch am anderen Ende der Leitung, etwas wie ein zu lautes Atmen, ein Aufatmen vielleicht, oder etwas Unterdrücktes. »Svenja. Du hast dich drei Wochen nicht gemeldet! Ich dachte, eine Sintflut hat das Handy
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