Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
einbildet.«
In diesem Moment klickte etwas in Nashville, sie hörte es beinahe. Es war wie bei seinen Panikattacken, aber seine Augen waren anders, sie waren seltsam klar, als er sich von der Wand abstieß und rannte. Er hechtete an ihr vorbei, und sie hörte ihn die Tür zum Badezimmer so heftig aufreißen, dass sie gegen die Wand schlug.
Was wollte er im Bad?
Sie drehte sich um und ging ihm nach. Er stand in der Dusche, mit all seinen Kleidern, und jetzt drehte er das Wasser auf, so weit es ging. Sie sah ihn zusammenzucken, als der harte Strahl auf ihn niederstürzte, doch er blieb stehen, auch wenn es ihn offenbar Mühe kostete; er stand mitten im Wasser und sah sie unverwandt an. Ein feiner Tropfenregen hüllte sie beide ein wie Nebel. Eine Minute verging, vielleicht zwei.
»Hör auf damit«, sagte Svenja schließlich. »Mach das aus.«
Dann griff sie durchs Wasser, um die Dusche selbst abzustellen. Das Wasser war eiskalt.
Nashville stand klatschnass vor ihr, zitternd, aber aufrecht.
Die zu großen Kleider klebten an seinem Körper, das wirre Haar hing kraftlos auf seine Schultern herab. Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, aber das Wasser wollte sein Gesicht nicht verlassen, es lief immer neues nach. Sie begriff zu spät, dass er heulte. Still und ohne den Mund zu verziehen, stand er in der Dusche und versuchte mit beiden Händen, die Tränen auf seinen Wangen zu verjagen wie lästige Fliegen.
»Ist ja gut«, sagte Svenja. »Ist gut. Du hast es mir bewiesen.« Sie zog ihn aus der Dusche und drückte ihn an sich, bis sie beinahe genauso nass war wie er. »Dann bleibst du. Es gibt ja sowieso gar nichts mehr, was du klauen könntest, also worüber mache ich mir Sorgen?«
Sie fand trockene Kleider im Schlafzimmer und holte die Schokolade von ihrer Mutter. Manchmal ist Schokolade besser als Schnaps.
Dann saßen sie zu zweit auf dem Bett, und Svenja öffnete die Schokolade. Etwas fiel heraus. Ein paar Stücke Papier. Ihre Mutter musste sie zur Sicherheit in die Packung hineingeschoben haben. Svenja hob die Papierstücke auf. Es waren vier Scheine. Vier Fünfziger.
Zweihundert Euro. Er hatte sie nie gestohlen.
Sie hielt sich nicht mehr mit Riegeln auf, sondern brach die Schokolade in zwei Hälften, gab Nashville eine und biss in die andere. »Prost«, sagte sie.
Er grinste. Zaghaft.
An diesem Abend begann sie, ihm das Andersen-Märchenbuch vorzulesen, so wie ihre Mutter ihr früher daraus vorgelesen hatte. Svenja lag auf dem Bett, und Nashville lag darunter, und durch die Matratze hindurch spürte sie seine lauschende Anwesenheit. Sie begann mit der Geschichte von der kleinen Meerjungfrau, die ihre Stimme verliert, um unter die Menschen zu gehen. Sie las von dem Prinzen, den die kleine Meerjungfrau liebte und der sie nicht verstand, und an dieser Stelle schlief sie ein, den Kopf auf dem Buch.
Sie träumte sich ein besseres Ende herbei als das traurige Ende von Andersen, aber als sie aufwachte, hatte sie es vergessen.
Fünf Tage lang geschah nichts.
Nichts außer endlosen Stunden, die sie über Büchern und in Seminaren verbrachte. Sie hielt in der Stadt Ausschau nach den Pennern vom Flussufer, doch sie fand keinen von ihnen. Nur die peruanische Panflötengruppe stand noch immer vor der Stiftskirche oder sonst wo und panflötete.
Zweimal gingen sie zum Haus Nummer drei, und Nashville schrieb mit Friedel das M, zur Abwechslung in Blau, denn alle roten Stifte waren hinüber. Friedel und Svenja küssten sich, wenn sie glaubten, dass er nicht hinsah.
»Du könntest heute Nacht hierbleiben«, sagte Friedel.
»Nein«, sagte Svenja.
Katleen saß in der Sonne vor der Kirche, blätterte in Studienordnern und filetierte Fleisch. Nashville polierte das Akkordeon. Er verschwand nachts nicht mehr. Träumen tat er noch immer.
Am sechsten Tag war ein Porträt in der Morgenzeitung. Ein gezeichnetes Bild, schwarz-weiß, funktionell. Etwas wie … ein Phantombild. Das Bild einer Frau.
Die Polizei bat um Hilfe. Wer hatte diese Frau an einem bestimmten Abend vor drei Wochen gesehen?
Svenja legte die Zeitung auf den kleinen Küchentisch.
»Sie wissen jetzt, wer sie ist«, sagte sie zu Nashville. »Jemand hat sie identifiziert. Die Tote vom Österberg …« Sie trank einen Schluck Kaffee. Ihre Hand zitterte. »Eine Obdachlose. Hier steht, es war eine Obdachlose. Einer ihrer Kumpel ist letztendlich zur Polizei gegangen und hat sich die Leiche angesehen, weil sie seit ein paar Wochen nicht mehr
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