Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
aufgetaucht war. Sirja. Was für ein seltsamer Name. Eine Pennerin … wie deine Freunde vom Neckar. Ich frage mich, warum sie umgebracht worden ist. Sie werden es herausfinden. Sie überwachen jetzt die Straßen und sprechen mit allen Obdachlosen …«
Der seltsame Name stand unter dem Bild, ein irgendwie einsames Wort. Da war kein Nachname. Svenja drehte die Zeitung um, sodass Nashville die Zeichnung richtig herum sehen konnte, aber er drehte sie zurück. Manche Dinge sah er wohl lieber verkehrt herum. Dann tat er etwas, das er bisher noch nie getan hatte: Er schüttelte den Kopf. Langsam und sehr entschieden. Es war wie ein Wort.
Er holte einen von Svenjas Stiften – einen schwarzen – und begann aus seiner umgekehrten Sichtweise heraus, das Bild zu verändern. Er machte es schmaler, die Wangenknochen niedriger, die Nasenpartie ein wenig breiter, das Haar länger und wirrer. Am Ende malte er die Augen dunkler.
Die Person vor Svenja war dieselbe und doch eine andere.
Sie hatte nicht gedacht, dass er auf diese Weise mit einem Zeichenstift umgehen konnte, es war erstaunlich.
»Wer war sie?«, flüsterte Svenja. »Wer war diese Frau?«
Nashville legte den Kopf auf den Tisch, mit dem Gesicht nach unten. So saß er noch, als Svenja ihn verließ.
Sie musste zu Histo. Sie schrieben an diesem Tag eine Klausur. Unter Svenjas Mikroskop lagen nur schwarz-weiße Frauengesichter. Sie riet völlig frei, welche Präparate sich hinter den Gesichtern befanden. Sie wusste schon beim Hinausgehen, dass sie durchgefallen war.
Als sie nach Hause kam, lag die Zeitung mit dem veränderten Bild noch immer auf dem Küchentisch. Nashville hatte sich unters Bett verkrochen.
Er blieb den ganzen Tag dort.
Gegen Abend kniete sie sich auf den Fußboden und sah ihn eine Weile an. Er lag einfach so da, auf dem Rücken, er hatte die Augen offen und atmete, aber er drehte sich nicht zu ihr um.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Okay, okay. Was immer es jetzt wieder ist, ich kann nichts dagegen tun. Ich komme später zurück. Du weißt ja, wo der Kühlschrank ist, nur bitte, versuch nicht, darin kopfzustehen, ja?«
Die langsam stiller werdenden Gassen gaben das Abendlicht von Hand zu Hand wie ein Opernglas, durch das die Stadt weicher aussah.
Am Himmel hingen tiefe, glühend konturierte Wolken, die sich verdichteten, sich auftürmten …
Es würde regnen.
Die Steinbänke vor der Kirche waren leer.
Sie hatte gedacht, sie könnte hier draußen, alleine, besser denken, aber ihre Gedanken liefen im Kreis. Nashville und die Pennerin, der Zugfütterer, Friedel und Thierrys Taschenmesser, ein Akkordeon, Nashville.
Sie fand sich in der Ammergasse wieder, vor einer Kneipe. Kleine Stege führten hier über den Kanal, den man auch mit einem Schritt hätte überqueren können. Aber manchmal braucht der Mensch Stege. Vor allem, wenn er nachts betrunken aus einer Kneipe kommt.
Plötzlich sehnte Svenja sich danach, im Brei aus Gesprächen und Musik dort drinnen unterzutauchen. Sie überlegte einen Moment lang, ob sie Friedel anrufen sollte; sie war nicht der Typ, der alleine in eine Kneipe geht.
Sie rief Friedel nicht an. Sie war hergekommen, um selbstständig zu sein.
Storchen.
Die Kneipe hieß
Storchen
. Sie überlegte für Sekunden, ob es sich um einen Schreibfehler handelte und etwas hätte heißen sollen wie Stochern. Dann überquerte sie die Brücke und betrat das Dämmerlicht hinter der Tür.
Eine schmale Treppe führte sie nach oben, wo offenes Fachwerk den Raum in winzige Nischen teilte. Sie setzte sich auf den letzten freien Platz, zu Leuten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und lächelte entschuldigend.
Wissen Sie, ich bin aus meiner Wohnung geflohen, weil ich nicht nachdenken kann, während dieses Kind unter dem Bett liegt und ins Nichts starrt …
Zum Glück durfte man rauchen. Man durfte auch Bier trinken: Tannenzäpfle. Auf dem Etikett strahlte eine rotwangige Schwarzwälderin wie ein Wettermännchen aus der Kuckucksuhr. Svenja stellte sich vor, wie genau so eine Frau, ganz klein und aus Holz, zu jeder vollen Stunde aus dem Flaschenhals geschossen kam und die Uhrzeit kuckuckte.
Sie brauchte drei Tannenzäpfle, ehe sie
ihn
sah.
Er lehnte an der Bar.
Lehnte dort und hielt ebenfalls ein Bier in der Hand, eine Zigarette in der anderen, nichts Besonderes in einer Kneipe. Aber sie wusste, dass er ihretwegen hier war. Sie überlegte, ob sie sich zwischen den Leuten hinausschlängeln sollte, Geld auf den Tisch
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