Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)
legen, fliehen. Aber was würde es nützen? Sie wollte Dinge
wissen
.
Sie krallte ihre Hände um die kalte Bierflasche, stand auf und ging zu ihm hinüber.
Als er sie ansah, war es ein wenig von oben herab – er war größer als sie, größer und sehr viel magerer. Mager wie Nashville.
»Svenja Wiedekind«, sagte er.
Sie nickte. »Und … du? Ich weiß deinen Namen nicht.«
»Namen sind nichts für Leute wie uns«, sagte er. »Es reicht, wenn ich für dich der Junge zwischen den Zeilen bleibe.« Er schnippte etwas Asche von dem uralten grauen Kapuzenpullover, den er trug. An den Ärmeln war der Stoff so abgewetzt, dass man die einzelnen Fäden sah.
»Ich schmeiß noch ’ne Runde«, sagte Svenja und versuchte, sich ihre Angst vor ihm nicht anmerken zu lassen. »Und du erzählst.«
»Was soll ich dir erzählen?«, fragte er und machte schmale Schlitze aus seinen Augen. Sie waren seltsam grünblau, beinahe türkis. »Ein Märchen?«
Sie nickte. »Ja. Das Märchen vom Prinzen mit dem Akkordeon.«
»Also hat er es? Das Akkordeon? Komm. Märchenstunde.«
Er nahm das Bier und wählte den kleinsten Tisch in der hintersten Ecke, und als sie sich setzten, verschwanden sie: im Schatten der Theke, im Schatten des Gedudels aus den Boxen, im Schatten einer Tafel mit den Namen der verschiedenen Flammkuchen (
heute: keine
). Im Schatten der wichtigen, großen Gespräche. Ein Verbindungsstudent hielt eine schwerzüngige Rede über Goethes Toilettengewohnheiten. Einen Tisch weiter löste jemand das Afghanistanproblem mittels der Relativitätstheorie. Niemand sah sich nach ihnen um.
Wir sitzen zwischen den Zeilen
.
Sie musste laut gedacht haben, denn der Junge zwischen den Zeilen nickte.
»Richtig, wir sind gar nicht da«, flüsterte er. »Aber wer nicht da ist, sieht Dinge. Wo ist der Kleine?«
»Liegt unter dem Bett und kommt nicht mehr heraus. Nachdem er das Bild in der Zeitung berichtigt hat.«
»Und?« Der Junge zwischen den Zeilen malte Kringel in den Frosttau auf der Bierflasche. »Hast du es gemerkt?«
»Was?«
Er seufzte. »Denk an das Bild … nichts? Die Augen?«
»Ich …«
»Schön. Fangen wir von vorne an.« Er holte eine einzelne Kippe aus seiner Tasche, eine gebrauchte Kippe, und zündete sie an der Kerze an.
»Wenn man das macht, stirbt ein Seemann«, sagte Svenja automatisch.
Der Junge klopfte mit der Faust von unten gegen den Tisch. »Wenn man das macht, wird er wieder lebendig«, sagte er langsam, als spräche er mit einer mental derangierten Person. Er schien es gewohnt zu sein, mit merkwürdigen Leuten zu sprechen. Der alte Mann, der Züge fütterte … Nashville … Die Frau, die glaubte, sie könnte singen …
»Warum lebst du auf der Straße?«, fragte Svenja ganz plötzlich. »Du redest nicht wie einer, der …«
»Wir sprechen jetzt nicht von mir, wir erzählen ein Märchen.« Er blies einen Rauchkringel und beugte sich über den Tisch, unangenehm nahe zu ihr.
»Es war einmal eine Frau«, flüsterte er. »Eine Frau zwischen den Zeilen. Keiner wusste, woher sie ursprünglich kam oder was sie dort gewesen war. Sie war immer unterwegs. Sie kam im April in die Stadt, mit dem Regen. Sie spielte Akkordeon. Sie sagte, ihr Name wäre Sirja. Es klang mehr nach dem Namen einer Plastik-Sonnenkriegerin aus der Spielzeugabteilung. Sie sammelte die Münzen in einem alten Halstuch und hatte langes graues Haar. Obwohl niemand genau wusste, ob sie wirklich alt war. Sie schlief nicht mit den anderen in der Stadt, sie sagte, sie bräuchte Luft. Sie nahm jeden Abend die Pappe, auf der sie tagsüber saß, und das Halstuch mit den Münzen und den Rucksack mit dem Kochgeschirr. Damit verschwand sie in die Wälder. Schlafsack hatte sie keinen. Kann sein, sie grub sich zum Schlafen ins Laub ein, sie lebte da draußen wie eine Wilde. Meistens hatte sie Blätter im Haar, wenn sie morgens in den Straßen auftauchte. Sie war noch nie in einem Winterquartier gewesen. Wer im Winter in ein Heim geht, wird irgendwo registriert. Sie war nie registriert worden, sie existiere gar nicht, sagte sie und war stolz darauf. Keiner weiß, wie sie die Winter überlebte und wie viel von dem, was sie sagte, gelogen war. Sie machte sich keine Freunde und wollte keine. Manchmal rastete sie aus, schlug um sich und schrie, man durfte sie nicht ärgern. Sie biss auch und spuckte, wenn es ihr nötig schien. Die anderen, die auf der Straße, hatten ihren eigenen Namen für sie: Sie nannten sie Sirja, die Löwin. Aber sie sagten
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