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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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nicht laut, dass das nur Spott war.« Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich«, sagte er schließlich. »Ich habe sie identifiziert. Sie haben alle von uns verhört. Sie sind jetzt überall in den Straßen. Die Polizisten.« Dann trank er den Rest seines Biers in einem Zug aus.
    »Aber … Nashville …«
    »Bist du so blöd, oder tust du nur so?« Der Junge zwischen den Zeilen starrte sie an, seine Stimme war plötzlich schroff und kantig. »Sirja, die Löwin, hatte ein Kind.«
    Svenja schloss ihre Hände so fest um die Flasche, dass es schmerzte.
    »Er hat keinen Namen, falls du dich das fragst. Wir haben ihn nur den Kleinen genannt. Er konnte immer mit den Leuten, im Gegensatz zu ihr. Er hatte gelernt, sich schnell Freunde zu machen. Wenn du so oft die Stadt wechselst, musst du dir schnell Freunde machen. Die anderen auf der Straße zum Feind zu haben, das überlebst du auf Dauer nicht.«
    »Sie hat es nicht überlebt«, flüsterte Svenja so leise, dass sie es selbst nicht hörte.
    »Sie hat ihn nie in einen Supermarkt mitgenommen«, sagte der Junge zwischen den Zeilen. »Er war mit dir zum ersten Mal in so einem Ding. Sie wolle nicht, dass er das sieht, hat sie gesagt. Die ganze bunte Reklamewelt des Konsumrauschs. Nichts als glitzernde Zuckerträume.«
    »Sie … sie hat ihm nicht mal das Lesen beigebracht.«
    Der Junge zwischen den Zeilen schnaubte. »Lesen.«
    »Aber er hat gesprochen … Hat er gesprochen?«
    »Natürlich. Er war schon immer ziemlich verrückt, aber er hat gesprochen. Und er hat sie gerngehabt. Seine Mutter. Sie war schon okay. Auf ihre Art.« Er stellte die Bierflasche auf den Kopf, als wäre sie Nashville. Sie stand sehr wackelig.
    »Er hat sie fast jede Nacht besucht«, murmelte Svenja. »Ihre Leiche.« Aber wem hatte die andere Stimme gehört? »Er hat Albträume. Ich krieche zu ihm unters Bett und versuche, ihn zu trösten …«
    Der Junge zwischen den Zeilen lächelte, zum allerersten Mal. »Mach das. Aber denk daran, dass er dir nicht gehört. Er ist keine Katze, die du im Tierheim abgeben kannst, wenn du sie nicht mehr haben willst.«
    »Vor was hat er Angst? Vor … wem?«
    »Zwei und zwei«, sagte der Junge zwischen den Zeilen.
    »Was?«
    »Du musst nur zwei und zwei zusammenzählen.«
    »Vier …«
    »Denk. Denk nach, Mädchen. Er hat Albträume, er hat Angst, er spricht nicht mehr. Sie haben da draußen geschlafen, am Österberg, schon eine Weile.
Er war dabei.
Er war dabei, als es passiert ist. Wenn der, der sie abgestochen hat, das rauskriegt … dass er ihn gesehen hat … dann hat der Kleine schlechte Karten, würde ich sagen.«
    Die kopfstehende Bierflasche fiel um.
    »Ich will wissen, wer das war«, flüsterte der Junge zwischen den Zeilen, und in seinen türkisen Augen lag ein Funkeln wie von kaltem Metall. »Ich will, verdammt noch mal, wissen, wer das war.«
     
    Der Junge zwischen den Zeilen verschwand, als sie zum Klo ging.
    Svenja blieb eine Weile alleine an dem kleinen Tisch sitzen und baute ein Kartenhaus aus Bierdeckeln. Ein Kartenhaus aus Gedanken. Schließlich pustete sie es um, holte ihr Handy hervor und wählte Friedels Nummer. Drückte sie weg. Wählte die Nummer ihrer Mutter. Drückte sie weg.
    Der Junge unter meinem Bett hat gesehen, wie seine Mutter umgebracht wurde.
    Sie wählte die Nummer ihres Vaters und drückte auch diese Nummer weg. Am Ende waren keine Nummern mehr übrig, die sie wegdrücken konnte. Sie steckte das Handy wieder ein.
    Irgendwo da draußen lief ein Mensch durch die Nacht, der vor drei Wochen im Wald eine Frau erstochen hatte. Warum? Wozu? Irgendwo da draußen lief ein Mensch durch die Nacht, der vielleicht wusste, dass ein kleiner Junge ihm dabei zugesehen hatte – ein Junge, der ihm entwischt war, durch das Dickicht eines Steilhangs.
    Svenjas Haustür war nicht abgeschlossen.
    Man sah das von außen natürlich nicht, und sie klemmte, sodass man beim ersten Versuch glauben konnte, sie
wäre
abgeschlossen. Wusste der Mensch da draußen in der Nacht, wo Nashville war? Hatte er ihn zusammen mit Svenja gesehen, war er ihnen gefolgt? Wartete er auf eine Gelegenheit?
    Wer, Nashville? Wer ist es? Kannst du ihn beschreiben? Wir müssen zur Polizei, verstehst du, die werden den Mörder deiner Mutter finden, wenn sie ein Bild von ihm haben.
    Aber sie würden Nashville dabehalten. Sie dachte an die dicken alten Mauern und den dunklen Kinderblick ihrer Vision, der sie aus einem der hohen Fenster heraus angesehen hatte.

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