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Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition)

Titel: Nashville oder Das Wolfsspiel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Vorwurfsvoll.
    Sie ging zur Theke, um zu zahlen, und da stand Katleen mit einem eben nachgefüllten Glas in der Hand. Nie war sie so froh gewesen, ein graues T-Shirt zu sehen, das über eine bloße Schulter rutschte.
    »Hey«, sagte Svenja. »Was machst du denn hier?«
    »Ich spiele Tischtennis mit einer Herde Mammuts«, antwortete Katleen. »Sieht man das nicht?« Sie zog ihr T-Shirt zurecht. »Nein. Dahinten sitzt der Rest der kunstgeschichtlichen Gesellschaft. Willst du zu uns kommen?«
    »Ich … nein«, sagte Svenja. »Ich muss nach Hause. Ich habe eben etwas erfahren, ich …«
    Katleen sah ihr volles Glas an, sah Svenja an, sah wieder das Glas an.
    »Gut«, sagte sie. »Ich erkläre nur eben den anderen, dass ich gehe. Erzähl es mir auf dem Weg.«
    Als sie in die Nachtluft hinaustraten, atmete Svenja ein paarmal tief durch.
    »Danke«, sagte sie dann. »Danke, dass du zuhörst. Es ist so …«
    Und sie erzählte Katleen die ganze Sache von Anfang an, und Katleen ging schweigend neben ihr her und sagte nur ab und zu »Hm« oder »Ach so«. Am Jakobusplatz war die Geschichte erzählt, und Svenja fühlte sich leer und etwas leichter.
    »Soll ich mit raufkommen?«, fragte Katleen.
    »Nein, ich … Ist schon in Ordnung«, sagte Svenja. »Wir sehen uns morgen.«
    Die Wohnung im ersten Stock atmete leise in der Schwärze. Svenja tastete sich bis zur Küche vor, machte das Licht an und stand einen Moment lang ganz still. Über die endlosen roten Schriftzüge mit dem Wort
NASHVILLE
hatte jemand etwas Neues geschrieben, in verschmiertem Schwarz:
    SIRJA
.
    Sie dachte an den Namen unter dem Zeitungsbild. Er musste die Zeichen von dort abgemalt haben.
    SIRJA SIRJA SIRJA
.
    Das rote
NASHVILLE
ertrank darin, es wurde vom Schwarz über die Wand gejagt wie von einem Menschen mit einem Messer.
    Auf dem Küchentisch lag keine Zeitung mehr. Dort stand ein Teller mit dem Rest einer seltsamen, schwarz-schmierigen Flüssigkeit. Daneben lag ein altes Streichholz. Er hatte die Zeitung verbrannt, um schwarze Farbe herzustellen. Die Kringel der S und R an der Wand waren die Spuren eines Fingers.
    NASHVILLE
SIRJA
NASHVILLE
SIRJA
NASH –
    Sie ging hinüber ins Schlafzimmer und kniete sich auf den Boden. Und da lag er, die Augen fest geschlossen.
    »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß es jetzt. Der Junge zwischen den Zeilen hat es mir gesagt. Sie war deine Mutter, und du hast gesehen, wie sie gestorben ist. Du hast eine Strähne von ihrem Haar mitgebracht, aus dem Wald …« Er rührte sich nicht. Er schlief.
    Sie streckte eine Hand nach ihm aus und erschrak. Seine Stirn glühte. Der ganze magere kleine Körper glühte – so sehr, dass Svenja Angst bekam, er könnte ebenfalls zu Asche zerfallen, ein Haufen weicher, dunkler Asche unter dem Bett. Sie war mit drei Schritten beim Küchenfenster.
    »Svenja?« Katleen stand noch immer unter ihrem Fenster, zum Glück. »Alles okay bei dir?«
    »Nein!«, rief Svenja. »Hast du was gegen Fieber zu Hause? Was man auch einem Kind geben kann?«
    »Wadenwickel«, antwortete Katleen. »Soll ich raufkommen?«
    »Nein, danke. Ich krieg das alleine hin.« Svenja schloss das Fenster und fluchte. »Klar sollst du raufkommen«, knurrte sie. »Friedel hätte das verstanden. Ich krieg das
nicht
alleine hin, Scheiße!«
    Sie weichte zwei Handtücher ein, zerrte Nashville unter dem Bett hervor, hievte ihn
darauf
und wickelte die Handtücher um seine dünnen Unterschenkel. Band Plastiktüten darum fest, damit das Bett nicht zu nass wurde. Legte ihm einen kalten, nassen Waschlappen auf die Stirn. Er bewegte sich im Schlaf, murmelte etwas, streckte einen Arm aus und hielt sich an Svenjas T-Shirt fest. Svenja legte sich zu ihm aufs Bett, in all ihren Kleidern, und schlief dicht neben ihm ein.
     
    Als sie nachts aufwachte, lag niemand neben ihr.
    Sie fand Nashville an seinem alten Platz unter dem Bett. Die Handtücher lagen verstreut auf dem Fußboden. Nashville glühte noch immer. Das Fieber schien weiter gestiegen zu sein. Svenja war schwindelig vor Müdigkeit. Doch dann sah sie, wie der Körper unter dem Bett zu zittern begann, stärker und stärker, als läge er in einer Eiswüste, und da zerrte Svenja ihn trotz ihrer Müdigkeit zum zweiten Mal unter dem Bett hervor. Verdammt, er würde wieder zurückkriechen, sobald sie wegsah: der Schutzreflex eines kleinen bedrohten Tieres.
    Sie hob ihn auf und ging mit ihm hinüber in die Küche, unschlüssig. Er atmete zu rasch, zu hektisch in ihren Armen; er

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